Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenfeuer

Schattenfeuer

Titel: Schattenfeuer
Autoren: Kristen Callihan
Vom Netzwerk:
Smith angreifen sollte. Langsam griff er nach den Bandagen und ließ das Leinen weit genug auseinanderklaffen, dass Smith sein Gesicht sehen konnte, und das, was daraus geworden war.
    Der Mann hob die Augenbrauen, zeigte aber keine Angst, das musste Archer ihm lassen. Er stieß einen langen, tiefen Pfiff aus. »Kann nicht sagen, dass ich dieses spezielle Leiden schon einmal gesehen hätte.«
    »Zweifellos.« Dankbar dafür, dass Smith ihn nicht fragte, wie er so geworden war, zog Archer das Leinen wieder an Ort und Stelle. Er bewunderte Männer, die wussten, wann sie ihre Neugier in Zaum halten mussten.
    Smith leerte sein Glas und stand auf. »Nun, dann fang ich besser mal an zu packen.« Er reckte sich träge, wobei seine Gelenke in Nacken und Rücken knackend protestierten.
    Archer erhob sich ebenfalls, sodass sie sich beinahe auf Augenhöhe gegenüberstanden. »Wann?«
    »Wir treffen uns hier, eine Stunde vor Sonnenaufgang.«
    Zwei Tage später brachte Smith ihn zum Priester der Huicholen, um seinen Fall vorzutragen.
    Archers Treffen mit dem Schamanen, wie Smith ihn nannte, war kurz aber erfolgreich. Als er dem ehrwürdigen Indio gegenüberstand, nahm er all seine Leinenbandagen ab und enthüllte, was er geworden war. Da waren weder Furcht noch blankes Entsetzen, und Archer erkannte schnell, dass diese heiligen Männer des amerikanischen Kontinents ein anderes Weltbild als die meisten Menschen besaßen. Sie schienen das Leben nicht als etwas Angsterfülltes zu sehen, sondern als etwas voller Geheimnisse und Akzeptanz. Der Schamane hatte nur wenige Fragen gestellt – hauptsächlich, was Archer zu finden hoffte. Auf Archers Antwort »ein Heilmittel«, hatte der Schamane nur genickt und ihn dann weiter nachdenklich gemustert.
    Jetzt war Archer seit einer Woche auf einer Pilgerreise nach Wiricuta, dem heiligen Land der Huicholen. Soviel er aus Smith hatte herausbekommen können, würden sie dort Zugang zu einem Tor in eine andere Realität bekommen. Dort würden seine Fragen beantwortet werden. Jeder anständige Engländer wäre überzeugt davon, dass das ganze Unterfangen sowohl Torheit als auch Wahnsinn war, aber Archer hatte schon einmal mit eigenen Augen einen Blick hinter den samtenen Vorhang der Realität geworfen. Er wusste inzwischen, dass es Dinge gab, die weit über das herkömmliche menschliche Verständnis hinausgingen.
    Da es ihnen während der gesamten Pilgerreise verboten war, sich zu waschen, vernünftige Mahlzeiten zu sich zu nehmen und die Nächte durchzuschlafen, war seine Reisegruppe inzwischen ein übel riechender, müde dreinblickender Haufen. Die heiße, gleißende Sonne brannte auf ihre Rücken und hängenden Köpfe nieder, dennoch waren diese Wanderer von einem Gefühl des Frieden und der Bestimmung erfüllt. Wie Balsam legte es sich über die gesamte Gruppe.
    Archer dagegen setzte, einmal davon abgesehen, dass auch er wie ein Gassenjunge aus dem West End roch, der Mangel an Schlaf und Nahrung kaum zu. Sein Körper war inzwischen einfach zu stark, und jedes Gefühl von Frieden prallte an seiner Verzweiflung ab.
    »Die Zeremonie findet heute Nacht statt«, durchbrach Smith Archers Gedanken. Die verzweigten Falten um seine Augenwinkel vertieften sich, als er in die untergehende Sonne blinzelte. »Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich tun wollen?«
    Als Archer ihn einfach nur ansah, erklärte er seine Bedenken näher. »Manche Weiße kommen nicht mehr davon zurück, wissen Sie. Ich glaube, es liegt daran, dass ihr ordnungsliebender Verstand nicht begreifen kann, was sich nicht erklären lässt. Also werden sie verrückt. Ihr Körper ist völlig in Ordnung, das schon, aber sie sind hinterher nie mehr ganz richtig im Kopf.« Er kratzte sich die dichten, grauen Stoppeln am Kinn. »Schlimmer als der Tod, wenn Sie mich fragen.«
    Und was, wenn man nicht sterben konnte? Hatte Smith überhaupt eine Vorstellung davon, was für eine Hölle das war? Archer zog es vor, diese Frage für sich zu behalten.
    »Ich komme zurück«, antwortete er stattdessen. Inzwischen war er zu allem bereit.
    Smith schnaubte spöttisch. »Besser wär’s. Sonst lasse ich Sie nämlich hier versauern. Hab keine Lust, einen sabbernden Engländer den ganzen Weg aus der Hölle wieder zurückzuschleppen.«
    #
    London, 18. April 1879
    Die Blase an Mirandas Fuß hatte inzwischen wahrscheinlich die Größe des Ärmelkanals, und ihre Rückenmuskeln schmerzten von der nervösen Anspannung, unter der sie litt, seit sie heute Morgen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher