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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall
Autoren: R. Scott Bakker
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Gehege kommen. Die Anhänger der Scharlachspitzen haben ein altes Sprichwort: »Wenn einer einen Hasen jagt, wird er ihn aufspüren. Aber wenn viele Leute einen Hasen jagen, entdecken sie einen Drachen.« Sobald Menschen gegensätzliche Interessen verfolgen, ist das Ergebnis immer unbekannt und allzu oft erschreckend.
     
    Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs

CARYTHUSAL IM WINTER 4110
     
    Alle Kundschafter sind von ihren Informanten besessen. Manche grübeln nur vor dem Einschlafen über sie nach, andere tun es in jeder nervösen Gesprächspause. Dann mustern sie sie, wie Achamian nun Geshrunni betrachtete, und fragen sich: Was weiß er wohl?
    Wie viele Tavernen in der Nähe der großen Elendsviertel von Carythusal war auch das Wirtshaus zum Heiligen Aussätzigen luxuriös und heruntergekommen zugleich. Die Keramikfliesen auf dem Boden waren erlesen wie in einem Adelspalast, die Wände aber bestanden aus gestrichenen Lehmziegeln, und die Decke war so niedrig, dass manch einer sich unter den Messinglampen ducken musste, die – wie Achamian den Wirt einmal hatte prahlen hören – echte Nachbildungen der Tempellaternen von Exorietta waren. Das Lokal war ständig voller zwielichtiger, manchmal gefährlicher Gestalten, doch Wein und Haschisch waren gerade teuer genug, um die, die sich kein regelmäßiges Bad leisten konnten, von denen fernzuhalten, die das Geld dafür hatten.
    Ehe er in den Heiligen Aussätzigen gekommen war, hatte Achamian die Ainoni nicht ausstehen können – vor allem die in Carythusal nicht. Wie die meisten Bewohner des Gebiets der Drei Meere hielt er sie für eingebildet und effeminiert. Was die sich an Öl in den Bart schmierten! Diese Freude an Ironie und Kosmetika! Und wie sie sich im Bett austobten! Doch seine Einschätzung hatte sich in den endlosen Stunden des Wartens auf Geshrunni allmählich gewandelt. Ihm war klar geworden, dass die Finesse von Geschmack und Charakter, die sich bei anderen Nationen auf die höchsten Kasten beschränkte, unter den Menschen hier wie ein Fieber um sich griff und sogar Freie aus den niedrigen Kasten, ja selbst Sklaven infizierte. Die Ainoni waren für ihn stets ein Volk von Wüstlingen und drittklassigen Verschwörern gewesen. Dass gerade dies sie zu einem Volk von Gleichgesinnten machte, hätte er früher nicht für möglich gehalten.
    Vielleicht hatte er deshalb bei Geshrunnis Worten »Ich kenne dich« nicht sofort erkannt, in welcher Gefahr er schwebte.
    Geshrunni, der sogar im Lampenlicht dunkel wirkte, nahm seine vor der weißen Seidenweste verschränkten Arme herunter und beugte sich im Stuhl vor. Er war eine imposante Erscheinung mit falkenartigem Soldatengesicht, einem Bart, der zu vielen kleinen Zöpfen geflochten war und wie eine Versammlung schwarzer Lederriemen aussah, und wuchtigen Armen, die so braungebrannt waren, dass die tätowierten Ainoni-Piktogramme, die sich in einer Linie von der Schulter zum Handgelenk zogen, kaum zu erkennen waren.
    Achamian versuchte, freundlich zu lächeln. »Auf dich und meine Frauen«, sagte er, stürzte noch ein Glas Wein herunter, atmete tief ein und leckte sich die Lippen. Er hatte Geshrunni immer für ziemlich beschränkt gehalten, für einen, der mit dem Denken und Formulieren so seine Mühe hatte – wie die meisten Krieger, vor allem die Sklaven unter ihnen.
    Aber die Behauptung Geshrunnis hatte nichts Beschränktes.
    Er musterte Achamian eindringlich, und zum Argwohn in seinen Augen gesellte sich eine leichte Verwunderung. Dann schüttelte er angewidert den Kopf. »Besser gesagt: Ich weiß, wer du bist.«
    Wie nachdenklich er sich nun zurücklehnte – das war für einen Soldaten so ungewöhnlich, dass Achamian vor Angst eine Gänsehaut bekam. Die laute Taverne schien von ihm abzurücken und nur noch als Hintergrund aus schattenhaften Gestalten und golden leuchtenden Lampen präsent zu sein.
    »Dann schreib’s auf«, gab Achamian zurück, als würde Geshrunni ihn allmählich anöden. »Und gib’s mir zu lesen, wenn ich nüchtern bin.« Er sah anderswohin, wie Gelangweilte das oft tun, und merkte, dass der Eingang zur Taverne leer war.
    »Du hast gar keine Frauen.«
    »Was du nicht sagst! Und wie kommst du darauf?« Mit einem raschen Blick prüfte Achamian, was sich im Rücken seines Gegenübers tat: Eine Hure drückte sich lachend einen glänzenden Silber-Ensolarius auf die verschwitzte Brust. Das Mannsvolk ringsum brüllte: »Eins!«
    »Das macht sie ziemlich gut«, kommentierte er.
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