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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten
Autoren: Nora Melling
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dem Schlafsack.
    «Hier, iss das», sagt er und gibt mir ein Stück Brot, in dem ein kalter gebratener Fleischbrocken steckt. «Haddrice hat es für dich aus dem Lager mitgebracht, da war es noch heiß. Ich weiß, dass es zu wenig ist. Die Wölfe jagen. Bald gibt es mehr. Dann bringt sie dir gleich was und auch frisches Wasser.»
    Frische Beute! Ich ahne den Geschmack von würzigem, frisch gejagtem Fleisch auf der Zunge, das ich mit meinen Wolfszähnen von den Knochen reißen werde. Ich bin wirklich hungrig, immer, als Mensch und als Wolf. Thursen sagt, das kommt davon, dass mein Körper so viel Energie für die Heilung verbraucht.
    Thursen sieht mir zu, wie ich gierig in das Essen beiße. «Verschluck dich nicht, dann musst du wieder husten.»
    Ich kaue hastig und schlucke. «Es tut mir leid, dass ich so schlinge», sage ich und reibe mir mit dem Handrücken den Fleischsaft aus dem Mundwinkel. «Es ist nur –»
    Er fährt mit seiner Fingerspitze über meine Wange. «Du bist jetzt ein verletzter Werwolf. Ist schon in Ordnung, ich kenne diesen grimmigen Hunger doch selbst. Ich habe nur an deinen letzten Hustenanfall gedacht.»
    Thursen hat recht, husten tut weh. Schlimmer als der Hunger. Ich bemühe mich, mehr zu kauen und kleinere Bissen zu nehmen. Zwischendurch spüle ich mit Schlucken aus der Wasserflasche nach. Und nach und nach beginnt das entsetzlich nagende, leere Gefühl in meinem Magen dann doch zu verschwinden.
    «Ist es jetzt für dich auch manchmal so, als wäre die Welt schärfer eingestellt?», fragt er mit einem Mal. «Als würdest du tausend Eindrücke bekommen vom Hier und Jetzt, aber alles andere ringsum, das Gestern und das Morgen, verschwimmt? Mir war manchmal, als würde alles Sein auf den Moment, auf mich hier im Wald zusammenschnurren.»
    Noch ein Schluck aus der Flasche, dann kaue ich den letzten Bissen. «Ich weiß nicht. Ich habe bisher mehr darüber nachgedacht, wann ich mich endlich wieder richtig bewegen kann, ohne dass es weh tut.» Und das wird bald sein. Ich merke, wie nach dem Essen die Heilung gierig in mir tobt, schmerzt, brennt und ich trotzdem von Stunde zu Stunde kräftiger werde. Als lebte in mir etwas Fremdes, Bedrohliches, das nicht zu mir gehört. Etwas, das mein Ich frisst, es verschlungen haben muss, denn wer bin ich? Wer ist man, wenn man sich selbst vergessen hat?
    Thursen spricht weiter. Seine leise, raue Stimme hüllt mich ein. «Du fühlst ihn, den Wald, stimmt’s? Das alles hier. Die Bäume und den Boden und die Tiere und die Luft zwischen den Stämmen. Die Insekten, die unter der Rinde schlafen, und die kleinen Tiere unter dem Laub. Du spürst, dass alles da ist, oder?»
    «Ja.» Ja, ich fühle es wie ein leises Kribbeln auf der Haut, fühle, dass ich verbunden bin mit allem Leben um mich. Noch etwas, das fremd ist, fremd und mächtig und auch nicht ich. Noch nicht.
    Er legt seinen Arm um mich und zieht mich näher. Sein Atem fließt über meine Wange, als er weiterspricht. «Für mich ist das weg, seit ich wieder Mensch bin. Manchmal, wenn ich schlafe, träume ich, ich könnte es noch.»
    Da ist so viel Sehnsucht in seiner Stimme. «Wenn du das so mochtest, warum wolltest du dann nicht, dass ich Werwolf werde? Denn das hast du mir doch erzählt, oder? Dass du eigentlich niemals wolltest, dass ich verwandelt werde.»
    «Du solltest vor der Scheiße in deinem Leben nicht davonlaufen. Für dich ist das nichts, sich im Wolfspelz zu verstecken. Du solltest die Kontrolle behalten über dein Leben und es selbst ändern. Das passt besser zu dir.»
    «Die Scheiße in meinem Leben? Was meinst du damit? Den Überfall? Oder war da sonst noch etwas?»
    «Hmm.»
    Was auch immer in meinem früheren Leben passiert ist, so schlimm kann es nicht gewesen sein, denn wenn ich in mich hineinhorche, dann fühle ich nichts. Keine Angst, keinen Kummer, nur Leere. Eine sanfte dunkle Leere, endlos wie ein verwaister Kaninchenbau. «Ich soll die Kontrolle behalten, aber jetzt bist du es, der Kontrolle hat. Du weißt, wie du mich zurückverwandeln kannst, und hast mir versprochen, dass du es tun wirst. Warum machst du es nicht?»
    «Jetzt, bevor du gesund bist? Was soll das bringen?»
    «Ich bin gesund. Es tut fast gar nicht mehr weh.» Na ja, fast jedenfalls nicht mehr.
    «Das sind die Schmerzmittel.»
    «Das kannst du nicht wissen. Warum lässt du mich nicht meine eigene Entscheidung treffen? Es ist mein Leben. Was ist, wenn ich gesund bin und dann nicht mehr zurückverwandelt werden will?
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