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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten
Autoren: Nora Melling
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wieder arbeiten, und weil Agnetha länger Unterricht hatte, war ich schon wieder allein, wenn ich von der Schule kam. Ich habe mich die halbe Nacht im nassen T-Shirt ans offene Fenster gestellt, um Halsschmerzen zu bekommen. Ich wollte sie nicht zur Arbeit gehen lassen, ich wollte nicht zur Schule, ich wollte den Tag mit meiner Mutter verbringen, nur wir zwei. Ich wollte mit ihr zum Arzt, und ich wollte, dass sie mir danach diese Kekse kauft.»
    «Deine Mutter hat gelacht, sagst du?»
    «Ja, und eine zweite Tüte Kekse für meine Schwester gekauft. Dabei mochte Agnetha die gar nicht so gerne, die waren ihr schon immer zu süß.»
    «Also hast du ihre Kekse auch noch bekommen.»
    «Kann sein. Wahrscheinlich. Agnetha hatte schon immer eine Schwäche für ihren kleinen Bruder.»
    Es ist nicht nur Agnetha, die eine Schwäche für ihn hat. «Ist es nicht schön, alles wieder zu wissen?»
    Er seufzt und streicht mir die Haare aus der Stirn. «Du bekommst alle Erinnerungen zurück. Alle, weißt du, nicht nur die schönen, frohen, lustigen, auch die schlimmen, schrecklichen, vor denen du dich vielleicht lieber dein Leben lang verkriechen würdest. Die Erinnerung an deinen Bruder.»
    Ja, ich hatte einen Bruder. Da sind kleine Erinnerungsfunken in meinem immer dunkler werdenden Gedächtnis, die mir, wie ein Blitzlicht, das Gesicht eines kleinen Jungen zeigen. Er ist gestorben, und ich vermisse ihn, hat Thursen mir erzählt. Das ist bestimmt schlimm, doch es ist nicht alles, was ich vergessen habe. «Ich will meine Erinnerungen zurück. Jetzt sofort. Ich vermisse dich. Ich vermisse die Erinnerungen an dich, an das, was zwischen uns war. Nichts kann so schlimm sein wie Vermissen.»
    «Ich werde da sein wie jetzt auch. Keine deiner Erinnerungen ist für immer verloren. Aber du wirst deinen Bruder wieder vermissen. Das hat dich fast zerstört.»
    Mein Bruder ist an Krebs gestorben, hat Thursen gesagt. Es ist ein ferner Schmerz, der über mich hinwegwäscht wie ein plötzlicher kalter Wind. Wollte ich damals wirklich auch nicht mehr leben? Ich fröstele, und Thursen zieht mich näher, lässt mich mein Gesicht an seinem Hals verbergen. Thursen und ich, wir sind uns ganz nah. Wird das so bleiben? Werde ich mich auch an das hier zwischen uns erinnern, wenn ich wieder ganz Mensch bin? Oder wird das dann vielleicht der blinde Fleck in meiner Erinnerung werden? «Weißt du auch noch alles aus deiner Zeit als Werwolf?»
    Sein Blick gleitet in die Ferne, als würde er einem fremden Lied lauschen. «Was willst du denn hören?»
    Kommt es mir nur so vor, oder ist seine Stimme wirklich heiserer als eben noch? Da sitzt nicht mehr der Junge mit den Keksen neben mir. Auf einmal ist er der Werwolf. Der Leitwolf war er, hat er mir gesagt. «Erzähl mir von der Jagd.»
    «Alles?» Er sieht mich an mit seinen Augen, dunkel jetzt, wie die Beute, die er gehetzt hat. Wie die Augen der Tiere, die ich fresse, wenn ich Wolf bin.
    Was versucht er in meinem Gesicht zu lesen? «Was ist alles?», frage ich.
    «Ich habe dir ja schon erzählt, was das Jagen für mich bedeutet hat, als ich noch ein Werwolf war. Menschen essen auch Fleisch, doch sie töten heute nicht mehr selbst. Tiere, Raubtiere, haben immer gejagt und getötet und gefressen. Wir haben das Fleisch unserer Beute gefressen und die Lebenskraft getrunken. Das ist der wahre Kreislauf des Lebens. Es beginnt mit der Erde. Die Erde gibt aus ihrem Innern das Leben, sie lässt die Pflanzen wachsen. Die Pflanzenfresser töten die Pflanzen und verleiben sich ihr Leben ein. Sie tragen es mit sich, bis die Raubtiere kommen und das Leben aus ihnen trinken. Und irgendwann sterben die Raubtiere und geben das geliehene Leben an die Erde zurück. Es endet in der Erde, um von dort wieder von neuem zu beginnen.»
    Ich beobachte den kleinen Vogel über uns in den Zweigen, hin und her hopst er und macht sich keine Gedanken über das Gestern und Morgen. «Also findest du, wir alle haben nur ein geliehenes Leben?»
    Er sieht mich an, und ich bin ihm so nah, dass ich die Röte auf Wangen und Nase betrachten kann, die die Kälte auf seine Haut malt.
    «Na ja, unser Leben dauert im Verhältnis nicht sehr lange», sagt er, «wenn du mal guckst, wie lange es die Erde schon gibt.» Thursen nimmt seinen Arm von meiner Schulter. «Meinst du, das Schmerzmittel wirkt jetzt?»
    «Versuch es einfach.»
    «Ich bemühe mich, dir so wenig wie möglich weh zu tun.» Er sucht in seinem Rucksack und holt eine Rasierklinge heraus. Er
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