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Scharade der Liebe

Titel: Scharade der Liebe
Autoren: Catherine Coulter
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ausgebildet werden. Horace sagte, dass er das gern tun würde, aber der Junge meidet die Dienstboten und bleibt lieber für sich allein in den Schlafzimmern der Großtanten. Der Junge braucht auch anständige Kleider. Ich frage mich, warum Eure Großtanten nicht dafür gesorgt haben? Und warum sollte Sir Henry Jack den Kammerdiener haben wollen?«
    »Gute Frage.«
    Verrückter Jack, der weder Jack noch verrückt war, hatte Angst. Es war jetzt vier Tage her, seit sie aus ihrem Schlafzimmer in das Haus der Tanten geflohen war. Und jetzt waren sie hier in London, und sie musste sich als Junge ausgeben, weil die Tanten gesagt hatten, dass ihr Stiefvater sie hier sicher aufspüren und alles herauskommen würde, wenn sie ein junges Mädchen bei sich hatten. Das würde Ärger geben, und ihr Großneffe sollte nicht noch zusätzliche Schwierigkeiten bekommen. Er sei so liebenswürdig, erzählten sie ihr jeden Abend, immer freundlich und überhaupt kein schlechter Kerl. Wie früher, hatte Mathilda gesagt.
    Sie musste ein Kammerdiener bleiben, damit ihr Großneffe nicht einer möglichen Gewalttat von ihrem Stiefvater ausgesetzt war. Sie hatten geschwiegen, Blicke ausgetauscht und dann gesagt, der Baron sei der Sohn eines ebenfalls sehr unehrenhaften Mannes und sie wollten nicht, dass der Baron wie sein Vater würde und vielleicht versuchte, sie in seine Gewalt zu bringen und zu verführen. Jack konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Mann sie in seine Gewalt brachte, aber das war nicht von Bedeutung. Die Tanten machten sich eben Sorgen, und sie wussten bestimmt mehr darüber als sie, da sie mindestens dreimal so alt waren wie sie; also hielt sie den Mund.
    Verrückter Jack. Sie musste unwillkürlich grinsen, als sie daran dachte, wie sie Jack erfunden hatten. Tante Mathilda hatte sie von oben bis unten angesehen und schließlich genickt. Und dann hatte sie mit ihrer tiefen, musikalischen Stimme nur ein Wort gesagt: »Reithosen.«
    Tante Maude hatte mit ihren kleinen Händen gewedelt und gemeint: »Ja, das ist eine gute Idee. Wir machen einen Jungen aus ihr. Sie zieht sich die Kappe tief in die Stirn, und wir stecken sie in viel zu große Reithosen. Ah, der Kirchenbasar. Dort bekommen wir alles, was wir brauchen. Unser Großneffe, der arme liebe Junge, wird bei ihrem Aussehen nicht in Versuchung geraten, wenn sich herausstellen sollte, dass er nach seinem schlimmen Vater geraten ist.«
    Sie hatte die Augen verdreht. »Ich sehe schrecklich aus, Tante Maude.«
    »Jack«, hatte Tante Mathilda erwidert, ohne auf sie zu achten.
    Tante Maude hatte genickt. »Ja, Jack ist ein sehr guter Name. Solide, unromantisch, ein Name, dem man vertrauen kann. Aber gab es nicht vor Jahren einmal einen Straßenräuber, der so hieß? Hieß er nicht Verrückter Jack oder so ähnlich?«
    »Black Jack«, hatte Tante Mathilda erwidert. »Aber >Verrückte ist besser. Das ist unser Junge.«
    »Ja, das war ein sehr romantischer, böser Mann«, hatte Tante Maude gesagt. »Nun, wenn der Baron auf irgendwelche seltsamen Gedanken kommen sollte, wenn er sie sieht, wird er denken: >Jack<, und er wird sich nicht mehr um sie kümmern.«
    Jetzt war sie seit vier Tagen Jack. Wie lange ihr Stiefvater wohl brauchen würde, um sie zu finden?
    Sie hatte den Baron nur einmal an diesem ersten Morgen gesehen, als sie angekommen waren, und da auch nur kurz, weil sie rasch den Kopf weggedreht hatte. Der Mann sah viel zu gut aus, auf eine blonde, blauäugige Wikingerweise. Jede andere Frau wäre ihm wahrscheinlich buchstäblich vor die Füße gesunken, aber sie spürte nur Abscheu und Furcht.
    Sie hatte nur einen kurzen Blick auf ihn werfen können. Ob der junge Mann wohl wie sein Vater war? Verdorben bis auf die Knochen? War er wie ihr Stiefvater?
    Ja, seine Großtanten hatten gesagt, der Vater des Barons habe schlechtes Blut gehabt, was bei den St. Cyres wohl häufig vorkam. Und sie glaubte den Großtanten. Wenn er ein Frauenheld war - wie ihr Stiefvater, wie sein eigener Vater dann würde sie eben Jack bleiben und ihn um jeden Preis meiden.
    Als er sie angeblickt hatte, während sie mit den Koffern der Großtanten da gestanden hatte, hatte sie kurz diese müde Arroganz in seinen Augen gesehen, die von einem Wissen zeugte, das ein so junger Mann wie der Baron eigentlich noch nicht haben konnte. Es war schade, aber wahrscheinlich war er wirklich verdorben bis in die Stiefelspitzen.
    Sie zog die Knie enger an die Brust.
    In Gedanken sah sie das Gesicht ihres Stiefvaters,
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