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Schandtat

Titel: Schandtat
Autoren: PeP eBooks
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hören bekommen,
was ›Wahrheit‹ für ihn bedeutete. »Also gut. Du zuerst.«
    Er faltete die Hände vor seinem Bauch und starrte mich an. »Ich sehe eine junge Frau, die sich von ihrer Mutter verraten, von ihrem Vater verlassen und von ihren Lebensumständen manipuliert fühlt. Ich sehe, dass du deine Mutter liebst und sie verteidigen wirst, aber auch, dass du dich von ihr distanziert hast. Ich sehe Groll und Zorn, die auf mich abzielen, und ich sehe, dass du nach Antworten suchst, die schwer zu finden sind. Außerdem sehe ich eine kluge, wortgewandte und zudem leidenschaftliche Person, die das Gefühl hat, nirgendwo hinzugehören - schon gar nicht an einen Ort wie diesen -, und die der Welt ihren Standpunkt klarmachen muss. Ich sehe, dass du aus deiner vertrauten Umgebung herausgerissen wurdest, aber ich sehe auch Stärke. Ich sehe keine Furcht, obwohl ich weiß, dass du sie bestimmt empfindest.« Er betrachtete mich nachdenklich. »Ich sehe außerdem eine Person, die glaubt, sie käme ganz gut ohne fremde Hilfe zurecht, und die es gewohnt ist, selbst auf sich aufzupassen. Das ist sozusagen meine Sicht der Dinge.«
    Wow. Als er ›Wahrheit‹ sagte, meinte er es auch so. Ich hatte das Gefühl, als sei gerade mein ganzes Leben seziert worden, und ich fragte mich, ob ich tatsächlich dermaßen durchschaubar war. Ich holte tief Luft.
    »Du bist dran.«
    Die Wahrheit. Mist. Er zwingt mich dazu, Farbe zu bekennen, und während mir die Gedanken durch den Kopf wirbelten, wurde ich zuerst ein wenig nervös, dann wütend. Auch gut. Wenn er es so haben wollte, dann sollte er es auch
bekommen. »Okay. Als ich aus dem Bus stieg, sah ich Durchschnitt. Bää. Einen Typ, der allein lebt und einsam ist. Ich sehe, wie du versuchst, mir irgendeinen Scheiß vorzuspielen, damit ich mich hier wohlfühle. Du kaufst mir neue Sachen und machst alles perfekt und kochst ein tolles Abendessen in der Hoffnung, dass es mir dann besser damit geht, einen Dad zu haben, der nicht genug Mumm in den Knochen hatte, sich in sechzehn Jahren auch nur ein einziges Mal um seine Tochter zu kümmern. Ich sehe einen Typen, der sich einen Scheißdreck um irgendetwas anderes gekümmert hat als nur um sich selbst, und jetzt weiß ich auch, warum ihr zwei euch getrennt habt. Ihr beide seid einfach genau gleich.« Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, den Sturzbach zurückzuhalten, den er heraufbeschworen hatte. Mir standen Tränen der Wut in den Augen, selbst als ich sah, wie er zusammenzuckte. Als hätte ich ihn körperlich angegriffen. Das kotzte mich nur noch mehr an. Er war schwach. »Ich sehe einen Feigling und einen selbstsüchtigen Mistkerl, der sich allein aus einem einzigen Grund bereit erklärt hat, mich hier wohnen zu lassen: Wenn er mir helfen kann, hilft es ihm vielleicht, sich besser damit zu fühlen, mein ganzes Leben lang ein solches Arschloch gewesen zu sein. Ich sehe einen Typen, der noch schlimmer ist als all die anderen, die meine Mom angeschleppt hat, weil du - aus was für dämlichen Gründen auch immer - nichts Besseres zu tun hattest, als hier dumm rumzusitzen und dich in deinem einsamen, erbärmlichen Leben zu verstecken.«

    Ich hätte mir die Augen aus dem Kopf heulen können, weil
ich mir im Grunde doch nur wünschte, dass alles, was ich gesagt hatte, falsch war. Nicht die bittere Wahrheit. Es wäre zu schön, einfach an diesem Tisch zu sitzen und so zu tun, als sei dieser Mann wirklich mein Dad. Als hätte ich aus heiterem Himmel, zack , einen netten neuen Vater bekommen. Die Bereicherung eines wundervollen Lebens. Aber so war es leider nicht. Der Mann mir gegenüber hatte sich sechzehn Jahre lang einen Dreck um mich gekümmert, und jetzt sollten ein Fischgericht und ein paar ausgewählte Therapeutenworte das alles wieder in Ordnung bringen? Keine Chance.
    Ich wischte mir über die Augen und sah ihn nicht an, obwohl ich es wirklich gern getan hätte. Doch ich konnte es nicht. »Ich bin fertig.«
    Schweigen. Dann sprach er. »Gut.«
    Ich runzelte die Stirn. Eigentlich sollte er mich jetzt anschreien, weil ich diese ganzen Sachen gesagt hatte. Er sollte mir erklären, dass nichts davon wahr sei und dass ich es nicht verstehen könne, weil ich noch ein Kind sei. Eben genau wie Mom immer. »Bleiben wir hier jetzt wie zwei Idioten sitzen oder was? Fallen wir einander in die Arme und tun weiter so, als sei alles cool?«
    Er schüttelte den Kopf.
    Ich blickte auf, wieder wütend. »Was dann?«
    Er erhob sich und nahm seinen Teller
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