Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schadensersatz

Schadensersatz

Titel: Schadensersatz
Autoren: Sara Paretsky
Vom Netzwerk:
Hölle heiß machen, weil ich nicht gewartet hatte, aber im Augenblick hatte ich ausschließlich das dringende Bedürfnis, meine Gedanken zu ordnen. In einundzwanzig Minuten schaffte ich es bis zu meiner Haustür. Als Erstes duschte ich ausgiebig, um den Anblick von Peter Thayers Hinterkopf aus meinem Gedächtnis zu waschen. Dann schlüpfte ich in weiße Leinenhosen und eine schwarze Seidenbluse - saubere, elegante Kleidung, die mir das Gefühl gab, fest in der Welt der Lebenden verankert zu sein. Ich angelte das Sortiment gestohlener Unterlagen aus der hinteren Tasche meiner Jeans und stopfte sie zusammen mit der Fotografie in eine große Umhängetasche. Sodann machte ich mich auf in mein Büro, verschloss die Beweisstücke in meinem Wandsafe und meldete mich anschließend beim telefonischen Auftragsdienst. Niemand hatte für mich angerufen; ich versuchte es also unter der Nummer, die mir Thayer gegeben hatte. Nach dem dritten Läuten verkündete eine Frauenstimme: »Kein Anschluss unter dieser Nummer. Bitte rufen Sie die Auskunft an und wählen Sie neu.« Die monotone Stimme zerstörte den letzten Rest von Vertrauen in die Identität meines nächtlichen Besuchers, der mir noch verblieben war. Ich kam zu der Überzeugung, dass er jedenfalls nicht John Thayer hieß. Aber wer war er dann, und weshalb hatte er mich dazu ausersehen, die Leiche zu finden? Weshalb hatte er das Mädchen mit hineingezogen, noch dazu unter falschem Namen?
    Ein nicht identifizierter Klient und eine identifizierte Leiche stellten mich vor das Rätsel, worin wohl meine Aufgabe bestehen sollte; zweifellos hatte man einen Dummen gebraucht, der den Toten entdeckte. Aber trotz allem ... Miss McGraw war tagelang nicht gesehen worden. Mein Mandant mochte zwar nur daran interessiert sein, dass ich die Leiche fand, mich aber interessierte vor allem das Mädchen.
    Es gehörte wohl kaum zu meinen Aufgaben, Peters Vater von seinem Tod zu unterrichten - falls er nicht bereits Bescheid wusste. Bevor ich jedoch meinen Besucher vom Vorabend endgültig als John Thayer abschrieb, musste ich ein Bild von ihm haben. »Schaffe stets klare Verhältnisse« - das war schon von jeher mein Motto. Ich zupfte ein Weilchen an meiner Unterlippe und zermarterte mir dabei das Gehirn, bis mir schließlich einfiel, wo ich ein Bild des Mannes bekommen konnte, ohne dass es jemand erfuhr - und zudem mit einem Minimum an Aufwand und Aufsehen.
    Nachdem ich mein Büro abgeschlossen hatte, begab ich mich durch das Geschäftsviertel hinüber zur Monroe und zur La Salle Street. Die Fort Dearborn Trust war auf vier mächtige Gebäude verteilt, an jeder Ecke der Kreuzung eines. Ich suchte mir das mit dem goldenen Schriftzug über dem Portal aus und erkundigte mich beim Portier nach der PR-Abteilung.
    »Zweiunddreißigster Stock«, nuschelte er. »Haben Sie einen Termin?« Ich gönnte ihm ein engelhaftes Lächeln, sagte »ja« und schwebte zweiunddreißig Stockwerke hinauf, während er an seinem Zigarrenstummel weiterkaute.
    PR-Empfangsdamen sind stets wohlproportioniert, gut gelackt und überaus modisch gekleidet. Der eng anliegende lavendelfarbene Overall dieser Dame stellte vermutlich das ausgefallenste Kleidungsstück in der gesamten Bank dar. Sie bedachte mich mit einem Plastiklächeln und überreichte mir huldvoll ein Exemplar des neuesten Geschäftsberichts. Ich setzte mein eigenes Plastiklächeln auf und ging zum Aufzug zurück, nickte dem Portier unten wohlwollend zu und schlenderte davon.
    Mein Magen war noch etwas instabil; ich begab mich also mitsamt meinem Bericht zu Rosie's Deli, um ihn bei Kaffee und Eisbecher zu lesen. John L. Thayer, Stellvertretender Generaldirektor der Treuhandgesellschaft, war an einer auffälligen Stelle zusammen mit ein paar anderen hohen Tieren innen auf der Umschlagseite abgebildet. Er war schlank, sonnengebräunt und in grauen Flanell gekleidet, und ich brauchte ihn nicht unters Neonlicht zu halten, um zu erkennen, dass er keinerlei Ähnlichkeit mit meinem Besucher vom Vorabend aufwies.
    Wieder zupfte ich an meiner Lippe. Die Polizei würde sicher sämtliche Nachbarn befragen. Einen Anhaltspunkt hatte ich ihr voraus, weil ich ihn mitgenommen hatte: die Zahlungsanweisungen für den jungen Mann. Die Zentrale der Ajax-Versicherungsgesellschaft befand sich im Geschäftsviertel, nicht weit von meinem gegenwärtigen Standort entfernt. Es war drei Uhr nachmittags, noch nicht zu spät für Geschäftsbesprechungen.
    Die Ajax hatte ihre Zelte in einem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher