Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frame, Janet

Frame, Janet

Titel: Frame, Janet
Autoren: Wenn Eulen schrein
Vom Netzwerk:
1
    Der Tag bricht früh an, mit den Vögeln, und in einer Wolke flötet der Zaunkönig wie das Kind im Gedicht: Lass dein heiteres Flötenspiel. Und im Garten wachsen Bohnenblüten, erbsengrünes, üppiges Gras, Schwärme von Insekten taumeln benommen durch die Lüfte; stumpfbraun schlängelt sich eine Rosenranke durch das Naturschalweiß einer gestrickten Teemütze mit Rosen; ach, die trunkenen, ganz frühen Morgenstunden, wenn Insekten auf den zerknickten Grashalmen und dem Antlitz der ersten erwachten Blume tanzen; und ich habe Möhrensamen gepflanzt, die nicht aufgegangen sind, weil der Wind einen Fliegfort-Zauber darüber hingehaucht hat; der Wind ist warm, war warm, und oben lodern die Tage wie gehabt, lassen ihre Atome schneeschwarzer Bohnenblüten und weißer Rosen platzen, verhöhnen das letzte, intuitive Wer war’s, Wer war’s der Sommerdrossel; und es hieß, man solle die Möhrensamen nur mit einer wattedünnen Erdschicht bedecken, doch sie sind zu tief eingesunken oder vertrocknet, und in den Bohnen, die später im Samt der Mitternacht erblühten, hat sich die Blattlaus breitgemacht; und ich dachte, ich hätte es wissen können, wie man es immer denkt, wenn das Schicksal heimlich zuschlägt. Überfluss des Sommers, ja, aber was hilft der grüne Fluss, der goldene Ort, wenn Zeit und Tod, wie Menschen in der Tasche meines Landes festgeklammert, nicht rasten und die biegsame grüne und weiße Rose, die Bohnenblüte und das morgendliche Sangesfest in der gesprenkelten Brust der Drossel hinwegraffen?
    Und jetzt, du dicker, magenkranker Weihnachtsmann, jetzt liegt ein Schneewall vor der Tür zum Weihnachtsfest, den kein Sommertag und keine Menschensonne zum Schmelzen bringt; so ist es, und so erscheint es auch passend. Und deshalb kaufen wir jetzt eine Weihnachtskarte und schreiben sie oder unterzeichnen den Nachruf aus Schnur mit Klebeband; hüllen unser Leben mit Taschentuch und Karte in Zellophan; kaufen eine Raupe zum Aufziehen, die mit wogendem Rücken dahinkriecht, über unseren Tag und unsere Nacht.
    So singt Daphne aus dem Totenzimmer.

2
    Ihre Großmutter war eine Schwarze, die vor langer Zeit als Sklavin in den Südstaaten von Amerika gelebt hatte, mit ihrem langen schwarzen Kleid, ihrem krausen Haar und ihrer öligen Haut. Sie sang oft von ihrer Heimat:
«Bringt mich zurück ins alte Virginia,
wo Baumwolle, Mais und Kartoffeln blühn,
wo so süß im Frühling die Vögel zwitschern,
dahin möcht mein alt Negerherz ziehn.»
    Und nun, da sie tot ist, wird sie wohl nach Virginia zurückgekehrt sein und wieder durch die Baumwollfelder wandern, und die Sonne scheint auf ihr Kraushaar, das wie ein schwarzer Baumwollballen ist, auf dem man tanzen kann, oder wie Distelflaum, den sich die Vögel, wäre ihre Welt schwarz, zum Nisten nehmen würden.
    Nein, du musst deinen Kohl essen, in Kohlländern hat man Seiher an der Wand, damit man den Kohl durchseihen kann und der grüne Saft herausläuft; aber wenn man zuckerkrank ist, muss man das grüne Wasser trinken, sonst kann man, wie die Großmutter, beide Beine verlieren, und dann bekommt man neue, aus Holz, die man hinter der Tür im Dunkeln aufbewahrt und die keine Knie zum Beugen und keine Zehen zum Wackeln haben.
    Kohlländer?
    Kohlländer?
    Kalender?
    Bei uns hängen Kalender an der Wand, und man heftet Rechnungen daran, vom Krämer und vom Milchmann und vom Schlachter; und wie sie da so hängen, schaffen sie es irgendwie, alle Tage und Monate des Jahres einzusammeln und mit Nummern zu versehen, wie Häftlinge, für den Fall, dass sie ausbrechen.
    Was sie dann doch tun – immer.
    «Die Zeit fliegt», sagte Mrs Withers. «Und es heißt Kalender, ihr Dummerchen, das hat mit Kohlländern nichts zu tun. Francie, Toby, Daphne, Chicks, trinkt euer Kohlwasser, sonst verliert ihr beide Beine wie eure Großmutter.»

3
    «Ich will nicht zur Schule», sagte Toby. «Ich will zur Müllgrube gehen und gucken, ob ich was finde.»
    Francie, Toby, Daphne – Chicks nicht immer, weil sie zu klein und zu bummelig war – fanden ihre Schätze in der Müllgrube zwischen Papier, Stahl, Eisen, Rost und alten Stiefeln und allem anderen, was die Leute aus der Stadt weggeworfen hatten, weil es nutzlos und nichts mehr wert war. Der Platz war wie eine Muschel, von gold flimmerndem Toitoigras umrandet, und auf den Müllhaufen wuchsen Gras und Unkraut wie ein grünes Fell; und dort, wo die Kinder zusammengekauert saßen, manchmal von den wandernden Bahnen der Feuer erwärmt, die die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher