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Scatterheart

Scatterheart

Titel: Scatterheart
Autoren: Lili Wilkinson
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verurteilt oder deportiert.«
    Hannah spürte einen Hauch von Schuld, den sie aber gleich wieder verscheuchte. »Das ist ja lächerlich. Sie kennen sie doch gar nicht.«
    »Du auch nicht.« Thomas warf seine Arme nach oben.
    »Letzte Woche wurde ein neunjähriges Mädchen verurteilt, weil es drei verschrumpelte, alte Äpfel gestohlen hatte. In der Woche davor wurde eine Neunzehnjährige gehängt, weil sie ihrer Herrschaft einen silbernen Löffel gestohlen hatte. Einen einzigen Löffel!«
    »Genau«, seufzte Hannah erleichtert. »Vater hat sie auch nicht angezeigt, sondern ihr nur gesagt, dass sie gehen muss. Sie wird wegen des Diebstahls also nicht vor Gericht gestellt. Eigentlich war er sehr edelmütig.«
    »Warum verteidigst du ihn?«, fragte Thomas und sah sie mit einem eigentümlichen Blick an.
    »Es hätte auch viel schlimmer für sie ausgehen können.« Hannah verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Das bezweifle ich«, entgegnete Thomas. »Du hast keine Ahnung, wie das Leben außerhalb dieser vier Wände ist. Du warst noch nie in Seven Dials, wo es Mütter gibt, die ihren Säuglingen Gin zu trinken geben, weil sie kein Geld für Milch haben. Oder Männer, die so betrunken sind, dass sie ihre Frauen bewusstlos schlagen, und sich anschließend zu Tode saufen. Oder Kinder, die weder Familie noch Wohnung haben und in der Gosse erfrieren … du hast sämtliche Silberlöffel und Äpfel, die du dir wünschen kannst. Du weißt nicht, wie die Wirklichkeit aussieht.«
    Hannah schwieg. Wusste er es denn? Hatte Thomas solche Dinge gesehen? An solchen Orten gelebt? Das Ozeanblauseiner Augen sah aus wie zu Eis gefroren. Er war enttäuscht. Hannah spürte, wie ihr die Tränen kamen.
    Thomas Behrs Stirn glättete sich wieder und seine zusammengepressten Lippen entspannten sich.
    »Entschuldige«, flüsterte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Vielleicht sollte ich mit deinem Vater darüber sprechen. Ihn überzeugen.«
    »Und was würden Sie ihm sagen?«, ertönte hinter ihnen eine ölige Stimme.
    Hannah drehte sich um. In der Tür stand ihr Vater. Im Vergleich zu Mr Behr sah er klein und zart aus, wie eins ihrer Porzellanfigürchen neben einer groben Stoffpuppe.
    »Sir«, sagte Mr Behr, »bitte tun Sie Lettie das nicht an.«
    Arthur Cheshire sah belustigt aus, aber Hannah wusste, dass er wütend war.
    »Es tut mir leid, Thomas«, sagte er, »aber von Dienstboten nehme ich keine Ratschläge an.«
    Hannah bemerkte, dass Thomas’ Schultern sich strafften. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Zornesröte überzog sein Gesicht.
    »Sie sind eine erbärmliche Gestalt«, brachte er hervor.
    Davon schien sich Arthur Cheshire nicht einschüchtern zu lassen. Er lächelte ausdruckslos und musterte seine wohlgefeilten Fingernägel.
    »Finden Sie nicht, dass Sie sich endlich eine richtige Arbeit suchen sollten, Thomas?«, sagte er. »Sie kommen seit fast vier Jahren hierher und stellen meiner Tochter nach.
    Das wird langsam unschicklich. Sie sollten sich endlich ein hübsches Dienstmädchen zum Heiraten suchen. Eine, die Ihrer gesellschaftlichen Stellung besser entspricht.«
    Thomas beachtete Arthur Cheshire nicht weiter und blickte Hannah an.
    »Was ich gesagt habe, tut mir leid«, entschuldigte er sich. Seine Stimme klang ruhig und eigenartig sanft. »Ich wollte dich nicht durcheinanderbringen.«
    Hannah schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Ihr war heiß. Sie wollte, dass Thomas blieb, aber ihr Vater hatte recht. Sie sah zu Thomas auf.
    »Hannah?«, sagte er.
    Hannah schaute zur Seite und schwieg.
    »Reden Sie meine Tochter gefälligst mit
Miss Cheshire
an«, forderte ihr Vater, »falls Sie sie überhaupt noch einmal ansprechen, was mir höchst überflüssig erscheint.«
    Thomas schreckte zurück. Er bückte sich und zog Hut und Handschuhe an. Dann hob er das Bücherpaket auf, seufzte und wandte sich wieder Hannah zu.
    Die starrte auf ihre gefalteten Hände.
    »Hannah«, sagte Thomas wieder.
    Sie sah hoch. Auf seinem Gesicht lag ein eigentümlicher Ausdruck, drängend, traurig und zärtlich zugleich. Sie wollte wegschauen, aber sie konnte nicht, obwohl sie wusste, dass ihr Vater nur wenige Schritte entfernt war und sie beobachtete.
    Sie schloss die Augen und drehte ihren Kopf zur Seite. Er sollte ihre Tränen nicht sehen.
    Thomas seufzte tief. Er ging hinaus und zog die Tür zum Salon hinter sich zu. Krachend fiel sie ins Schloss – Hannah wusste nicht, ob Thomas’ Zorn oder nur ein Windstoß schuld daran war.
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