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Scarpetta Factor

Scarpetta Factor

Titel: Scarpetta Factor
Autoren: Patricia Daniels Cornwell
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Hals, als habe man ihr den Schal erst nach ihrem Tod umgebunden. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass der Täter ihr zuerst auf den Kopf geschlagen und sie in dem Glauben, dass sie noch lebte, anschließend erwürgt hatte. Doch wie viel Zeit hatte er in diesem Fall mit ihr verbracht? Nach der Verletzung, Schwellung und Einblutung im Kortex zu urteilen, war sie noch eine Zeitlang, vielleicht sogar einige Stunden, am Leben geblieben. Und dennoch war der Fundort nahezu frei von Blut. Erst beim Umdrehen der Leiche war die Wunde am Hinterkopf bemerkt worden, eine fünf Zentimeter lange, stark geschwollene Verletzung, aus der jedoch kaum Flüssigkeit austrat. Das Fehlen von Blut schob man auf den Regen.
    Allerdings hatte Scarpetta ernsthafte Zweifel an dieser Theorie. Der Riss in der Kopfhaut hatte gewiss heftig geblutet, weshalb es ziemlich unwahrscheinlich war, dass der Regen, eigentlich eher ein Nieseln, fast das gesamte Blut aus Tonis langem, dichtem Haar herausgespült haben sollte. Hatte der Angreifer ihr zuerst einen Schädelbruch verpasst, sich dann in einer regnerischen Winternacht stundenlang mit ihr im Freien aufgehalten und ihr zu guter Letzt den Schal fest um den Hals geschnürt, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht verriet? Oder war das Würgen Teil eines sexuellen Gewaltrituals? Warum wollten sowohl Totenflecken als auch Totenstarre so gar nicht zu den Bedingungen am Fundort passen? Offenbar war die Frau spät in der vergangenen Nacht im Park umgebracht worden – und dennoch machte sie den Eindruck, als sei sie schon seit mindestens sechsunddreißig Stunden tot. Scarpetta verstand die Welt nicht mehr. Vielleicht sah sie ja auch Gespenster oder konnte nicht mehr klar denken, weil sie sich gehetzt fühlte und ihr Blutzuckerspiegel bedenklich niedrig lag. Schließlich hatte sie den ganzen Tag noch nichts gegessen, aber dafür jede Menge Kaffee getrunken.
    Und nun würde sie auch noch zu spät zu der für drei Uhr angesetzten Dienstbesprechung kommen. Außerdem musste sie um sechs zu Hause sein, um ins Fitnessstudio und anschließend mit ihrem Mann Benton Wesley zum Essen zu gehen. Danach würde sie auf schnellstem Wege zu CNN fahren, obwohl sie nicht die geringste Lust dazu verspürte. Sie hätte sich nie breitschlagen lassen dürfen, in Tue Crispin Report aufzutreten. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, als sie sich einverstanden erklärt hatte, mit Carley Crispin vor die Kamera zu treten, um die Veränderungen der Haarstruktur nach dem Tod, die Bedeutung des Mikroskopierens und andere Gebiete der Forensik zu erörtern, die von der Öffentlichkeit ständig missverstanden wurden? Was einzig und allein die Schuld jener Branche war, zu der Scarpetta inzwischen selbst gehörte: der Unterhaltungsindustrie. Mit ihrem Mittagessen im Pappkarton marschierte sie durch die Anlieferungszone, wo überall Kisten und Schachteln voller Büromaterial und bei der Autopsie benötigten Utensilien sowie Karren, Rollwagen aus Metall und Pressspanplatten herumstanden. Der Wachmann in seiner Plexiglaskabine telefonierte gerade und würdigte sie kaum eines Blickes, als sie an ihm vorbeihastete.
    Oben an der Rampe zog sie die Karte, die sie an einer Kordel um den Hals trug, durch ein Lesegerät, um die schwere Metalltür zu öffnen, und betrat ein weiß und petrolgrün gekacheltes, mit Geländern ausgestattetes Labyrinth, das überall und nirgendwo hinzuführen schien. In ihren Anfangstagen als Teilzeit-Gerichtsmedizinerin hatte Scarpetta sich ständig verlaufen und war in der Anthropologie anstatt in der Neuropathologie oder der Kardiopathologie, in der Herrenumkleide anstatt in der für Damen oder im Raum für verwesende Leichen anstatt im Autopsiesaal gelandet. Sie hatte die falsche Kühlkammer, das falsche Treppenhaus und manchmal sogar die falsche Etage erwischt, wenn sie den alten Lastenaufzug aus Stahl benutzte.
    Allerdings hatte sie bald verstanden, welche Logik hinter dem Grundriss des Gebäudes steckte. Es handelte sich gewissermaßen um einen Rundweg, der in der mit einem gewaltigen Garagentor versehenen Anlieferungszone begann. Wenn der gerichtsmedizinische Transportdienst eine Leiche brachte, lud man die Bahre dort ab und schob sie durch einen Strahlendetektor. Wies kein Alarmsignal auf das Vorhandensein von radioaktivem Material hin, wie es Radiologen beispielsweise bei der Behandlung einiger Krebsarten verwendeten, war die nächste Haltestelle die im Boden eingelassene Waage, wo man die Leiche wog und vermaß.
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