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Scarpetta Factor

Scarpetta Factor

Titel: Scarpetta Factor
Autoren: Patricia Daniels Cornwell
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Die folgende Station hing vom Zustand des Toten ab. Ließ dieser zu wünschen übrig oder wurde er als Gefahr für die Lebenden eingestuft, brachte man den Verstorbenen in die Kühlkammer für verwesende Leichen gleich neben dem dazugehörigen Autopsieraum, wo man die Obduktion allein, unter besonderer Belüftung und mit Hilfe anderer Schutzmaßnahmen durchführen konnte.
    Eine Leiche in guter Verfassung wurde einen Flur entlanggeschoben, der rechts von der Anlieferungszone abging. Je nach Art der Verletzungen standen noch weitere Zwischenstopps auf dem Programm: das Röntgenlabor, der Lagerraum für Gewebeproben, zwei weitere Kühlkammern für noch nicht untersuchte Leichen, der Aufzug für diejenigen, die oben aufgebahrt und identifiziert werden mussten, Asservatenkammern, die Neuropathologie, die Kardiopathologie und zu guter Letzt der Autopsiesaal. Wenn die Leiche nach Abschluss dieses Rundwegs zur Bestattung freigegeben wurde, endete sie wieder an der Anlieferungszone, und zwar in einer Kühlkammer, wo nun auch Toni Darien in einem Leichensack auf einem Regal hätte liegen sollen.
    Doch die befand sich auf einem Rollwagen, der vor der Edelstahltür der Kühlkammer stand. Eine Assistentin war gerade damit beschäftigt, ein blaues Laken über sie zu breiten und es bis zum Kinn hochzuziehen.
    »Was machen Sie da?«, fragte Scarpetta.
    »Wir hatten oben eine kleine Szene. Sie wird aufgebahrt.« »Auf wessen Wunsch und warum?«
    »Die Mutter ist in der Vorhalle und weigert sich, zu gehen, bevor sie sie gesehen hat. Keine Sorge, ich kümmere mich darum.« Die Assistentin hieß Rene, war Mitte dreißig und hatte schwarze Locken und dunkelbraune Augen. Außerdem besaß sie ein ungewöhnliches Talent im Umgang mit Angehörigen. Wenn in dieser Phase ein Problem aufgetreten war, handelte es sich sicher nicht um eine Kleinigkeit, denn Rene gelang es normalerweise, jede Situation zu entschärfen.
    »Ich dachte, der Vater hätte sie bereits identifiziert«, wunderte sich Scarpetta.
    »Nachdem er die Papiere ausgefüllt hatte, habe ich ihm das Foto gezeigt, das Sie mir gemailt hatten. Das war, bevor Sie in die Mensa gegangen sind. Kurz darauf erschien die Mutter, und die beiden haben sich in der Vorhalle gestritten. Das heißt, sie sind eher übereinander hergefallen, bis er wutentbrannt abgehauen ist.«
    »Sind sie geschieden?«
    »Sie hassen einander offenbar wie die Pest. Jetzt besteht die Mutter darauf, die Leiche zu sehen, und lässt sich nicht abweisen.« Renes in einem violetten Gummihandschuh steckende Hand strich der Toten eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn und steckte ihr weiteres Haar hinter die Ohren, um die Spuren der Autopsie zu tarnen. »Ich weiß, dass Sie in ein paar Minuten Dienstbesprechung haben. Ich erledige das schon.« Sie warf einen Blick auf den Pappkarton in Scarpettas Hand. »Sie haben ja noch nicht einmal gegessen. Haben Sie heute überhaupt etwas in den Magen gekriegt? Vermutlich nicht, so wie immer. Wie viel haben Sie inzwischen abgenommen? Sie werden noch in der Anthropologie landen, weil man Sie mit einem Skelett verwechselt.«
    »Worüber haben sie sich denn in der Vorhalle gestritten?«, erkundigte sich Scarpetta.
    »Bestattungsinstitute. Die Mutter möchte eines auf Long Island beauftragen, der Vater beharrt auf New Jersey. Die Mutter will eine Beerdigung, aber die Vater besteht darauf, sie einäschern zu lassen. Die beiden haben sich wegen ihr gezankt.« Sie berührte wieder die Tote, als könne sie am Gespräch teilnehmen. »Dann haben sie einander alle möglichen Anschuldigungen an den Kopf geworfen. Sie haben so einen Radau veranstaltet, dass sogar Dr. Edison aus seinem Büro gekommen ist.«
    Dr. Edison war der Chief Medical Examiner und Scarpettas Vorgesetzter, wenn sie in der Stadt war. Da sie den Großteil ihrer beruflichen Laufbahn selbst Chief Medical Examiner oder Inhaberin einer Privatpraxis gewesen war, fiel es ihr ein wenig schwer, sich einem Vorgesetzten unterzuordnen. Andererseits hätte sie niemals Leiterin der New Yorker Gerichtsmedizin sein wollen, selbst wenn man ihr je diesen Posten angetragen hätte. Einer derart riesigen Behörde vorzustehen war, als wäre man Oberbürgermeisterin einer Großstadt.
    »Tja, Sie kennen ja die Vorschriften«, sagte Scarpetta. »Solange sich die beiden nicht einig sind, bleibt die Leiche hier und wird nur auf Anweisung der Rechtsabteilung freigegeben. Was ist eigentlich passiert, als Sie der Mutter das Foto gezeigt haben?«
    »Ich habe
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