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Scalzi, John - Metatropolis (Erzählungen)

Scalzi, John - Metatropolis (Erzählungen)

Titel: Scalzi, John - Metatropolis (Erzählungen)
Autoren: John Scalzi
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Pfad war ein durchscheinendes blassblaues Band auf dem Gehweg vor ihm, aber hinter ihm verschwand er im Nichts.
    »Wir müssen weitergehen«, hatte Miranda gesagt. » Ich muss es tun, für meinen Sohn.«
    Gennadi hätte nur die Brille abnehmen müssen, dann wäre er wieder in der normalen Wirklichkeit gewesen. Warum hatte er also plötzlich so große Angst gehabt? »Ihr Sohn«, hatte er mit leichtem Unmut erwidert. »Sie bringen ihn nur in Momenten wie diesen ins Spiel, wissen Sie? Sie reden nie über ihn, als wären sie seine Mutter.«

    Sie schwieg eine ganze Weile, bis sie schließlich sagte: »Ich kenne ihn nicht besonders gut. Es ist furchtbar … aber er ist bei seinem Vater aufgewachsen, Gennadi. Ich habe versucht, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Aber es geschah hauptsächlich per E-Mail. Doch das bedeutet nicht, dass ich mir keine Sorgen um ihn machen würde …«
    »Na gut«, sagte er mit einem Seufzer. »Tut mir leid. Was machen wir jetzt? Weitergehen, vermute ich.«
    Sie taten es, und eine halbe Stunde später fand sich Gennadi zwischen alten Lagerschuppen und heruntergekommenen, von Mauern umgebenen Häusern wieder. Das blaue Band führte zur Tür eines gedrungenen, fensterlosen Ziegelsteingebäudes und endete dort.
    »Gennadi«, sagte Miranda, »mein Wegweiser endet vor einer Ziegelsteinmauer.«
    Gennadi zog am Griff, aber die Metalltür ließ sich nicht bewegen. Über dem Griff befand sich ein Tastenfeld mit Ziffern, aber es gab keinen Klingelknopf. Er schlug gegen die Tür, aber niemand reagierte.
    »Was sehen Sie?«, fragte er sie. »Irgendetwas, das Ihnen auffällt.«
    Beide suchten nach einem Hinweis, und nach einer Weile sagte sie zaghaft: »Hm, da ist ein Graffiti …«
    »Was für eins?« Er kam sich recht idiotisch und ungeschützt vor, wie er hier herumstand.
    »Zahlen«, sagte sie, »die auf die Mauer gesprüht wurden.«
    »Nennen Sie sie mir«, sagte er. Sie gab die Zahlen durch, und er tippte sie in das Tastenfeld an der Tür.
    Darauf war ein leises Klicken zu hören, und die Tür zu Oversatch öffnete sich.
    Hinter der Tür zeichnete sich für Miranda ein neuer Pfad ab. Sie nahm ihn, und es hatte über eine Woche gedauert, bis er sie von Angesicht zu Angesicht wiedergesehen hatte. In der Zwischenzeit waren sie beide vielen Bürgern von Oversatch begegnet – von einem ehemaligen Highschool-Lehrer bis zu einer kompletten Mannschaft unrasierter und gewöhnlicher Fischer, von desillusionierten Computerprogrammierern bis zu Studienabbrechern -, und sie hatten die Farmen und Fabriken einer parallelen Realität besichtigt, die so weit von Rivet Couture entfernt war, wie jenes ARG wiederum von Stockholm entfernt war.
    Die Bürger von Oversatch waren Aussteiger. Sie hatten nicht nur ihre vermeintlichen Nationalitäten aufgegeben, wie es Miranda Veen getan hatte, als sie einen Ingenieur aus Cascadia heiratete. Ihr Mann hatte Windparks auf den Hügelzügen und Bergspitzen der Stadt gebaut und der Gemeinschaft geholfen, sich aus der einstigen Abhängigkeit von der nationalen Stromversorgung zu befreien. Miranda hatte in einer der vertikalen Farmen am Stadtrand gearbeitet. Ein einzelner Wolkenkratzer im Umfang eines Blocks, der für intensive hydroponische Landwirtschaft genutzt wurde, konnte 50 000 Menschen ernähren, und in Cascadia gab es Dutzende dieser riesigen Türme. Cascadia war aus jeglicher Abhängigkeit von der nordamerikanischen Wirtschaft ausgestiegen, und Miranda war aus der amerikanischen Staatsbürgerschaft ausgestiegen. Alles auf seine Art sehr logisch – aber nichts im Vergleich zu Oversatch.
    Hatten Gennadi und Miranda zuvor Pakete für die Großherzöge von Rivet Couture hin und her transportiert, nahmen sie nun an wesentlich komplexeren Spielen teil, bei denen es um internationale Finanztransaktionen ging, in Währungen, die keine Entsprechung in der »realen« Welt hatten. Oversatch hatte seine eigene Ökonomie, seine eigenen Institutionen und internen Regeln. Doch die Welt, in der das alles stattfand, war flüchtiger Natur, und bedeutende Zentren konnten sich über Nacht in Luft auflösen. Organisationen, Unternehmen, Städte und Nationen wurden in Oversatch als »Attraktoren« bezeichnet. Das komplexe Netzwerk menschlicher Aktivitäten neigte dazu, sich entspannt darin niederzulassen, aber jeden Augenblick konnten die elastischen Handlungen von sieben Milliarden Menschen, die halbwegs unabhängig voneinander agierten, zahlreiche der Netzwerkknoten so deformieren, dass sie
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