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Sayuri

Sayuri

Titel: Sayuri
Autoren: Carina Bargmann
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stechender Schärfe auf sie gerichtet.
    »Genau so habe ich mir dich immer vorgestellt«, flüsterte der alte Mann. Scharf sog er die Luft ein, als würde ihm das Sprechen viel Mühe bereiten.
    »Komm her«, bat er leise. Eine knochige Hand tastete sich unter den Decken hervor.
    Vorsichtig umschloss sie die dürren Finger. Altersflecken hatten sich auf der pergamentartigen Haut ausgebreitet. »Da bist du endlich«, flüsterte er. Seine tief liegenden Augen musterten sie abschätzend. »Sechzehn Jahre hab ich nur darauf gewartet …«
    »Gewartet?« Ihre Stimme klang glockenhell, als sie sich im Raum ausbreitete.
    Der Alte lachte leise. Schnell verwandelte sich sein Lachen in ein kehliges Husten, das seinen ganzen Körper erzittern ließ. »Gewartet«, bestätigte er atemlos.
    »Warum?«, fragte Sayuri leise. Mein Vater, dachte sie und strich über die alten Finger. Sie mochte es nicht glauben und doch wusste sie, dass dies ihre einzige Gelegenheit sein würde, ihm Fragen zu stellen.
    »Man sagte mir, du wärst mit ihr gestorben«, flüsterte der alte Mann heiser. Er hatte den Kopf ein kleines Stück angehoben. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest, doch sein Griff war schwach. Tränen quollen aus seinen Augen, die rot und entzündet waren.
    »Warum erst jetzt?«, fragte Sayuri. »Warum?«
    Er stöhnte. »Mein Bruder war es, der mir damals sagte, dass mein Kind tot sei. Ein grausameres Schicksal kann man sich nicht vorstellen.«
    Rasselnd holte er Luft, doch seine Lungen schienen ihm den Dienst zu versagen. »Ich war außer mir vor Schmerz, damals. Ich sah keine Hoffnung, keinen Sinn mehr zu leben. Doch ich konnte meinem Leben kein Ende setzen. Nicht ohne Erben.« Er verstärkte den Druck seiner Hand. »Du musst wissen, mein Kind, dass die Macht über die Quelle immer nur in der Hand eines einzigen Menschen liegt. Er ist unsterblich, bis er sich entscheidet, Abschied von dieser Welt zu nehmen. Aber er kann nur gehen, wenn ein Nachkomme da ist, ein Kind, das alt genug ist, das Erbe anzutreten.«
    Sayuri schwieg und der Kaiser ließ sich in die Kissen zurücksinken. Ein mattes Lächeln erschien auf seinen ausgezehrten Zügen. »Ich mag für die Welt dort draußen noch der Kaiser sein – doch in Wirklichkeit bin ich ihr schon längst entschwunden. Mein Bruder – er hat sich um alles gekümmert. Doch dann – sechzehn Jahre später – kam mir neue Hoffnung. Plötzlich spürte ich etwas – spürte, dass da eine Macht war, die nach mir griff, etwas, das stärker war als ich. Der Wasserspiegel der Quelle sank. Und irgendwann verstand ich, dass du am Leben sein musstest.« Er strich ihr über die Hände. »Wie schön du bist«, sagte er. »So schön wie deine Mutter es war.« Seine Stimme war voller Schmerz.
    »Warum hast du nicht nach mir suchen lassen?«, flüsterte Sayuri.
    »Als ich deine Macht fühlte und begriff, was geschehen sein musste, da ging es mir bereits sehr schlecht. Schon sah ich meinem Tod erwartungsvoll entgegen – doch dann spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Deine Macht verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Und ich gewann neue Kräfte – bis zum heutigen Tag.« Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und erst einen Moment später bemerkte Sayuri, dass es ein Lächeln war, das sich über den Totenschädel spannte.
    »Aber nun bist du endlich gekommen, um mich zu erlösen«, flüsterte er leise. »Meine Tochter …«
    Sayuri blickte ihn an, unfähig, etwas zu erwidern.
    Langsam hob er die zitternde Hand, berührte ihre Wange. Sie musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. »Die gleichen Augen«, flüsterte er leise. »Du hast die gleichen Augen wie deine Mutter.«
    Seine Hand fiel auf die Decke, als die Kraft aus ihr wich. »Ich war kein guter Vater«, sagte er heiser.
    Sayuri hätte auflachen können bei seinen Worten, aber stattdessen stiegen ihr Tränen in die Augen. Nein, dachte sie. Aber du bist nicht schuld an dem, was passiert ist. Sie konnte die Worte nicht laut hervorbringen, aber sie hoffte, dass er sie trotzdem verstand. Hilflos hielt sie seine Hand fest.
    »Sei eine gute Tochter. Tu, was ich nicht tun konnte«, bat er leise. »Ich weiß, dass du es kannst.« Er hatte die Augen geschlossen. Seine Worte waren kaum mehr als ein Hauch.
    Sayuri nickte. Sie wusste, dass er es nicht sehen konnte. Wie erstarrt stand sie da, ihre Augen hingen an dem alten Mann, als könnte er noch etwas sagen, was sie unbedingt hören musste. Wieder griff sie nach seiner kalten, kraftlosen
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