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Sarum

Sarum

Titel: Sarum
Autoren: Edward Rutherfurd
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sich in der Gegend auf, die später Nordengland heißen sollte. Hoch im Norden war die etwa hundert Meter dicke Eiskruste der Nacheiszeit in stetigem Rückzug begriffen und schmolz weiter. Ein paar Jahrhunderte früher hatte sie noch die Stelle bedeckt, wo die Jäger nun ihr Lager hatten. Im Westen lag der Atlantische Ozean. Mit Ausnahme Irlands, von dem Hwll nichts wußte, reichte das Wasser bis an die Küsten Nordamerikas und sollte erst neuntausend Jahre später überquert werden.
    Im Süden befanden sich die Midlands und die ausgedehnten Niederungen Südenglands, und noch weiter südlich hatte die breite Mündung des Rheins zusammen mit anderen Flüssen in Jahrtausenden allmählich ein schmales Meer gegraben, das heute der Kanal genannt wird. Im Südosten aber lag die große Landbrücke, die die britannische Halbinsel mit dem eurasischen Kontinent verband. Hier dehnte sich die schier endlose Ebene, deren Wälder mit Steppen durchsetzt waren, ununterbrochen vom östlichen Britannien zweieinhalbtausend Meilen bis zum schneebedeckten Uralgebirge in Mittelrußland.
    Über diese Landmassen waren die Jäger der nördlichen Hemisphäre Zehntausende von Jahren gewandert: nach Süden, als die Eiszeiten aufeinanderfolgten, dann wieder nach Norden, wenn das Eis zurückwich. Es war die ferne Erinnerung an diese Wanderungen, die Hwll mündlich überliefert worden war und die nun die Basis seiner Weltsicht bildete. Auf seiner kühnen Reise zu den warmen Landstrichen des Mittelmeerbeckens, fünfzehnhundert Meilen nach Süden, wollte er auf den Spuren seiner Vorgänger ziehen. Hätte er gewußt, daß es so weit war, wäre er wohl nie aufgebrochen. Er wußte nur, daß es die warmen Länder gab und daß es an der Zeit war, sich auf die Suche nach ihnen zu machen.
    Doch als Hwll die anderen Jäger fragte: »Wer kommt mit mir?«, schwiegen sie. Sie hatten seit Generationen hier gejagt und immer irgendwie überlebt. Hwll konnte keinen überreden, ihn zu begleiten; einige Tage später machte sich Akun, nach heftigem Hin und Her, mit ihm und den Kindern allein auf den Weg. Eine warme Sonne stand an jenem Morgen am Himmel, als sie die vier Familien verließen, die ihnen traurig nachsahen, bis sie ihren Blicken entschwanden.
    Sie hatten einen kleinen Vorrat an getrocknetem Fleisch, Beeren und ein Zelt mitgenommen, das Hwll und Akun zwischen sich trugen. Sie schlugen ein langsames Tempo an, um die Kräfte der beiden Kinder zu schonen, aber trotzdem schafften sie gut und gern zehn Meilen am Tag, und Hwll war zufrieden. Gesprochen wurde wenig; selbst die Kinder waren schweigsam.
    Der Junge war ein stämmiger kleiner Kerl mit großen nachdenklichen Augen. Er ging nicht schnell, doch mit dem Ausdruck konzentrierter Entschlossenheit auf seinem Gesicht. Hwll hoffte, sie würde den ganzen Weg über anhalten. Das Mädchen, Vata, war schlank und anmutig – wie ein junges Reh, dachte Hwll. Sie wirkte zart, doch er vermutete, daß sie die Zähere von beiden war.
    Am fünften Tag erreichten sie ihr erstes Ziel: die Hügelkette. Sie erhob sich majestätisch über der Tundra; ein riesenhafter natürlicher Damm, einige hundert Meter hoch, der sich über zweihundert Meilen an der Ostseite Britanniens hinunterzog, bevor er sich westwärts wandte und sich weitere zweihundert Meilen durchs Land erstreckte, bis er schließlich im Süden seine Reise am Meer beendete. Der Blick von der Hügelkette war herrlich, und selbst Akun lächelte staunend, während sie neben Hwll stand und umherblickte. Sie konnten fünfzig Meilen weit sehen. Als sie oben entlanggingen, entdeckten sie Gehölz und Buschwerk, wo sie die Nacht verbringen konnten. So vergingen die Tage. Die kleine Familie wanderte allein vor sich hin. Manchmal waren sie nahe daran, den Mut sinken zu lassen. Aber Hwll führte sie schweigend und unbeirrt bergab. Hin und wieder sah er sich nach seinen Kindern und nach Akun um, denn er wollte stets daran denken, daß er für sie diese Wanderung unternommen hatte.
    Akun! Eine tiefe Wärme durchflutete ihn, wenn er sie ansah. Als sie einander zum erstenmal begegneten, war sie zwölf Jahre alt. Sie gehörte zu einer wandernden Schar, die in das Gebiet gekommen war, wo seine Leute jagten. Solche Zusammentreffen waren selten, und bei dieser Gelegenheit wählte man sich eine Frau. Hwll war ein kundiger Fährtensucher und noch allein. Sie war ein gutaussehendes Mädchen, das eben die Pubertät hinter sich hatte. Die Angelegenheit brauchte nicht einmal besprochen zu
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