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Sarum

Sarum

Titel: Sarum
Autoren: Edward Rutherfurd
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spärlichen Wild, das durch das unfruchtbare Ödland zog. Rentier und Wildpferd, der stämmige Wisent und der stattliche Elch tauchten am Horizont auf. Die Jäger verfolgten sie oft viele Tage lang, um sie zu erlegen und von der Beute die nächste Jahreszeit zu überstehen.
    Hwll und seine Frau lebten in der äußersten Nordwestecke der gigantischen Tundraregion.
    Hwll war der Typ jener Wanderer, die keiner bestimmten Rasse angehörten. Er war etwa einen Meter siebzig groß, damit etwas über dem Durchschnitt, hatte hohe Backenknochen, kohlschwarze, kluge Augen und ein stark zerfurchtes, verwittertes Gesicht. Die Hälfte seiner Zähne waren ihm noch geblieben, und die waren gelb. Hwll war achtundzwanzig – er hatte also die Hälfte eines Lebens in jener Gegend und zu jener Zeit gerade überschritten. Sein rauhes Wams und seine Gamaschen waren aus Rentierhaut und Fuchspelz gefertigt und wurden durch Knebel aus Knochen zusammengehalten – nähen konnten diese Menschen noch nicht. Er trug weiche, flache Lederschuhe und keinen Schmuck. So war er in der Tundra natürlich getarnt: Er glich einer zerzausten braunen Pflanze unbestimmbarer Gattung.
    Hwll war unter den übrigen Jägern als kundiger Fährtensucher bekannt. Viele Jahre lang hatte die kleine Schar ungestört in einem etwa fünfzig auf vierzig Meilen großen Areal gelebt und gejagt. Sie hatten dem Wild nachgestellt und gefischt. Über alle Jäger wachte die Mondgöttin und schützte ihr gefährliches Dasein.
    Im Sommer lebten sie in Zelten, im Winter gruben sie ihre Unterkunft in einen Hügelabhang und verblendeten sie mit Reisig – eine einfache, doch klug erdachte Behausung, die die kostbare Körperwärme speicherte.
    Hwll hatte Akun zehn Jahre zuvor zur Frau genommen und seither fünf Kinder gezeugt, von denen zwei überlebt hatten, ein Junge von fünf und ein Mädchen von acht Jahren.
    Und nun bereitete er eine waghalsige Wanderung in unbekanntes Land vor! Akun schüttelte verzweifelt den Kopf.
    Die Gründe für Hwlls außergewöhnlichen Plan lagen auf der Hand. Seit drei Jahren schon waren die Jagderträge schlecht, und im vergangenen Winter war die kleine Schar dem Verhungern nahe gewesen. Vergeblich hatte Hwll Tag um Tag den Schnee nach Fährten abgesucht. Sie hatten mit dem Vorrat an Nüssen und Wurzeln überlebt. Hwll hatte gesehen, wie die Frauen und Kinder immer schwächer wurden. Fast hatte er jede Hoffnung aufgegeben. Es war wegen der ständigen Nordwinde bitter kalt gewesen, und am Ende des Winters waren eine Frau und drei Kinder gestorben.
    Mit dem Frühling war unter dem Schnee morastiges Ödland mit kleinen Blumen und struppigem Gras zum Vorschein gekommen. Aber den Wisent, der sonst mit dem Wechsel der Jahreszeiten auftauchte, hatten die Jäger noch nicht gesichtet.
    Unter diesen Umständen war Hwll davon überzeugt, daß sie den nächsten Winter nicht überstehen würden. So traf er seine Entscheidung. »Ich wandere nach Süden«, sagte er zu den anderen, »wo das Land reich ist und die Menschen in Höhlen wohnen. Wer kommt mit mir?«
    Es war eine kühne Behauptung, gegründet auf eine alte mündliche Überlieferung. Mehr wußte er nicht. Was jede Generation der nächsten über die geographischen Gegebenheiten berichtet hatte und was nun auf Hwll gekommen war, klang recht einfach. Hoch im Norden, so hieß es, wurde es noch kälter und unwirtlicher, bis man schließlich eine etwa fünf Mann hohe Eiswand erreichte, die von Ost nach West die Landschaft durchtrennte. Diese Eiswand hatte weder Anfang noch Ende. Weit im Westen befand sich ein Meer, und auch dieses war endlos. Nach Süden zu lagen Tundra und dichter Wald, bis man an ein Wasser gelangte, das man wegen seiner Größe nicht überqueren konnte. Also war der Weg an drei Seiten abgeschnitten, doch der Südosten bot eine verlockende Aussicht. Zuerst, so war überliefert, wanderte man tagelang nach Süden bis zu einem langgestreckten Hochplateau. Nach Osten hin konnte man dann niedrigere Hügel überqueren, bis eine sanft geneigte Ebene in einen großen Wald führte, wo man den Pfaden vertrauensvoll folgen konnte. Mit der Durchquerung des östlichen Waldes ließ sich das südliche Meer umgehen. An den Wald sollte eine große Steppe angrenzen; von dort würde Hwll sich wieder südwärts wenden und tagelang wandern müssen, um schließlich jenen legendären warmen Landstrich zu erreichen, wo die Menschen in Höhlen wohnten.
    So vage das auch klang – die Auskunft stimmte. Denn Hwll hielt
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