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Sarum

Sarum

Titel: Sarum
Autoren: Edward Rutherfurd
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so nah war? Und was war das für ein merkwürdiges Geräusch da vorn? Er weckte Akun. »Irgend etwas stimmt nicht«, sagte er. »Ich muß nachsehen. Wartet hier auf mich.«
    Er lief den ganzen Morgen. Am frühen Mittag hatte er fünfzehn Meilen zurückgelegt, und die Geräusche vor ihm waren lauter geworden. Mehr als einmal hörte er ein weithin hallendes Krachen, und aus dem Murmeln war ein verdächtiges Dröhnen geworden. Als er das ansteigende Gelände hinauflief und endlich oben stand, war er vor Schreck wie gelähmt: Vor sich, wo er den Wald vermutet hatte, sah er nichts als Wasser, Wasser ohne Ende – ein Meer! Und das Meer war in Bewegung, denn Eisschollen zogen, so weit das Auge reichte, an ihm vorbei nach Süden. Er konnte es nicht fassen. Genau vor ihm hätte der große Wald beginnen sollen, den er gesucht hatte. Statt dessen war hier ein neues Meer, rollte unerbittlich südwärts, grub einen mächtigen Kanal und trieb Erde, Fels und Bäume vor sich her.
    Hwll hatte im Frühling angeschwollene Flüsse mit Eisschollen gesehen und vermutete zu Recht, daß im Norden ein neues gigantisches Tauwetter eingesetzt haben mußte, um solche Wassermassen zu erzeugen. Was auch der Grund sein mochte – die Folgen waren verheerend. Der Wald, den er hatte durchqueren wollen, lag nun im Meer. Vermutlich waren auch die fernen östlichen Ebenen und die warmen südlichen Länder dort unten. Eines war jedenfalls sicher: Sie konnten nicht hinüber. Der ehrgeizige Plan für den großen Treck war gescheitert, all die Mühen der langen Wanderung waren umsonst gewesen. Das Land im Osten, wenn es überhaupt noch existierte, war abgeschnitten.
    Doch Hwll war ein praktischer Mann. Er blieb den ganzen Nachmittag, wo er war, und als die Sonne unterging, prüfte er den genauen Wasserstand. Danach warf er seinen Pelz um die Schultern und wartete auf den nächsten Morgen: Das Wasser war nicht weiter angestiegen. Am zweiten Morgen war er mit seinen Untersuchungen zufrieden. Wenn das Wasser immer noch stieg, dann jedenfalls langsam, und wenn nicht eine neue Überflutung folgte, hatte er zumindest Zeit, seine Familie auf höhergelegenes Land zu führen, wo sie sicher wären. Er erhob sich steif und machte sich auf den Rückweg. Er hatte bereits neue Pläne.
    Hwll war Zeuge der Entstehung der Insel Britannien geworden. Der große Wald, den er durchqueren wollte, lag neben der heute so genannten Doggerbank in der Nordsee. Während einer kurzen Zeitspanne – sehr wahrscheinlich innerhalb weniger Generationen – hatten die rasch schmelzenden Eisschollen der nördlichen Eishaube die Landbarriere quer durch die Nordsee durchbrochen und die Tiefebene, die Britannien mit Eurasien verband, überflutet. Etwa um diese Zeit brach auch die Landbrücke über die Straße von Dover, das südöstliche Ende eines weiteren großen Kreidekammes Britanniens, auseinander. Das Land, das Hwlls Vorfahren überquert hatten, war verschwunden. Er berichtete Akun in knappen Worten von dem Ereignis. »Wir gehen also zurück?« fragte sie.
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wir gehen an der Küste entlang nach Süden«, sagte er. »Vielleicht gibt es einen anderen Weg hinüber.« Akun starrte ihn finster an. Er wußte, daß sie bald rebellieren würde.
    Vatas Augen lagen tief in ihren Höhlen, aber sein kleiner Junge machte ihm größere Sorgen: Er war mehr als erschöpft, er war vollkommen teilnahmslos.
    »Er wird uns verlassen«, sagte Akun.
    Hwll wußte, daß sie recht hatte. Alles Leben schien aus dem kleinen Kerl gewichen; wenn sie nicht bald etwas dagegen tun konnten, würde er sterben.
    Akun hielt die beiden Kinder fest. Sie hingen schweigend an ihr, wußten kaum, wie ihnen geschah; sie holten sich Trost aus der mütterlichen Wärme und dem vertrauten ranzigen Geruch des Pelzes, den sie trug. Sie taten Hwll leid, aber es gab kein Zurück.
    Die Reise schien nicht enden zu wollen, doch zehn Tage später trat eine sichtbare Wende ein, die ihnen neue Hoffnung gab. Sie hatten die Tundra hinter sich.
    Nun stießen sie auf Marschen und ausgedehnte Wälder. Bäume tauchten auf, die sie nie zuvor gesehen hatten: Ulmen, Erlen, Eschen und Eichen, Birken und sogar Tannen. Staunend betrachteten sie jeden einzelnen. Sie fanden auch Wildfährten. Eines Morgens, als Hwll einen Fisch im Bach fing, kamen die Kinder und führten ihn schweigend hundert Schritte stromaufwärts. Dort spielten zwei braune Tiere mit seidigem Fell am Flußufer im Sonnenlicht. Sie hatten nie vorher Biber
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