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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Rat, dem außerdem alle 17 Zentralbankspräsidenten der Eurozone angehören; sogar der Erweiterte Rat, der 27 Präsidenten versammelt, wird um seine Meinung gefragt. Man tagt natürlich in diesen Gremien, wie es sich gehört, hinter geschlossenen Türen. Dennoch ist in letzter Zeit aus den Beratungen ein deutliches Grummeln zu hören, seitdem die EZB große Mengen von riskanten Staatsanleihen aus finanziell angeschlagenen Mitgliedsländern aufkauft. Der Druck der Politik macht sich offenbar auch dort bemerkbar, wo es ihn gar nicht geben darf.
    Erschöpfend kann man den Überblick, der hier geboten wird, vielleicht nennen, aber ob er vollständig ist, steht dahin. Ein letztes Institut, das man nennen könnte, ist die EIB , eine Investitionsbank in Luxemburg. Auch sie gilt offiziell als ein eigenständiges Organ der EU , vom dem es heißt, es sei an Weisungen der Kommission nicht gebunden. Das ist schön, wenn auch ihr Rat derGouverneure aus den Finanzministern besteht und im Verwaltungsrat ein Vertreter der Kommission nicht fehlen darf. Ferner gib es ein Direktorium, ein Generalsekretariat, eine Generaldirektion, sechs Direktionen und – fast hätten wir ihn vergessen – einen Präsidenten.

V
Esprit de corps
    Aber das wahre Leben spielt sich bekanntlich nicht in den Chefetagen ab. Wichtiger als die zahllosen Präsidenten sind letzten Endes die Damen und Herren aus der zweiten Reihe, die Kader, die Sherpas, deren Namen nie in den Nachrichten auftauchen. Wer sie kennenlernen möchte, tut gut daran, das Touristenrevier der Brüsseler Altstadt hinter sich zu lassen und die Metro zu nehmen. Michael Stabenow, ein Kenner der Gegend, in der die Hauptquartiere der Union behaust sind, beschreibt die Anfahrt besser als jeder Reiseführer:
    »Der Novembertag dürfte halten, was der blaue Plastikeimer verspricht. Tritt man an diesem Morgen aus den spärlich be-leuchteten Katakomben des Brüsseler Schuman-Bahnhofs ins Freie, ist man zumindest vorgewarnt. Stetig tropft Wasser aus der Decke in einem am Ausgang stehenden Eimer. Nach einem Schlenker um den gutgefüllten Behälter geht es, im strömenden Regen, viele Treppen hinauf. Die Rolltreppe steht seit Monaten still und dient mittlerweile als Sammellager für Papier, Dosen und Zigarettenkippen. Willkommen im Herzen des Brüsseler EU -Viertels.
    Hätte es noch eines Beweises bedurft, daß Europa eine Dauerbaustelle ist, hier wäre er erbracht. Dreht man sich um, erblickt man jenseits der chronisch verstopften, mehrspurigen Rue de la Loi und hinter einem Kranfahrzeug das Berlaymont-Gebäude, das einst asbestverseuchte Hauptquartier der Europäischen Kommission. Fünf Jahre lang, von 1991 bis 1996, sollte es renoviert werden. Dann vergingen acht weitere Jahre. Auf 13 Stockwerkenbeherbergt der Glaspalast heute die 27 Kommissare, ihre Mitarbeiterstäbe sowie einige Dienststellen.« Seine Nutzfläche wird mit 241 515 Quadratmetern angegeben, eingerechnet der vier Kellergeschosse für die technische Infrastruktur und der Parkplätze der Beamten.
    Der Name, den es trägt, erschließt sich weder den Bewohnern noch dem Besucher auf Anhieb. Im 16. Jahrhundert gab es einen Grafen Karl von Berlaymont, der zwischen der spanischen Krone und den niederländisch gesinnten Geusen vermitteln wollte und deshalb nach dem Sieg der patriotischen Partei eine Weile im Gefängnis saß. Aber mit dem Befreiungskampf gegen die Herrschaft Albas hat der Name des Gebäudes in Wahrheit nichts zu tun; denn das Grundstück an der Rue de la Loi, das heute die Kommission beherbergt, gehörte bis 1960 den Dames de Berlaymont, einer klösterlichen Gemeinschaft, die dort vor den Toren der Stadt ein Mädchenpensionat betrieb. Zuerst von der Grundstücksspekulation, dann vom belgischen Staat unter Druck gesetzt, mußten die Stiftsdamen die Flucht nach Waterloo ergreifen. Wo einst ihr idyllischer Klostergarten lag, hat das Europa-Quartier sich wie ein extraterritorialer Fremdkörper in die belgische Hauptstadt eingenistet. Der Außenwelt gegenüber gibt sich das Berlaymont abweisend. Ohne einen Plastikausweis am Revers und Sicherheitsschleusen wie an einem Flughafen ist seine Klausur nicht zu betreten.
    Das gilt auch für den Sitz des Europäischen Rates, der entweder Consilium oder auch Justus-Lipsius-Gebäude genannt wird. Auch hier weiß niemand, was es mit diesem Paten auf sich hat. Zwar findet sich im Foyer seine Statue; aber es dürfte im Troß der Minister und im Gewimmel der dienstbaren Geister kaum jemanden
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