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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition)
Autoren: T.C. Boyle
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Burnussen? Sie war so enttäuscht – entgeistert, schockiert –, dass sie kaum den Kopf wandte, als der Junge das rohgezimmerte Tor für sie aufstieß. »Soll ich die Sachen in den Salon stellen?« fragte er.
    Sie war jetzt im Hof und ging wie in Trance auf die Tür zu, die, wie sie selbst aus dieser Entfernung sehen konnte, so schlecht gezimmert war, dass über der Schwelle ein breiter Spalt klaffte wie eine schwarze horizontale Narbe. Die Fensterbretter waren rissig, die Scheiben durch den Flugsand milchig geworden. Auf den Verschalungsbrettern lief eine Reihe aus schwarzen Nagelköpfen in einem derart willkürlichen Zickzack vom Boden bis hinauf zur Dachschräge und wieder hinunter, als hätte der Wind die Nägel eingeschlagen, und die Bretter selbst waren so nachlässig getüncht, dass die Maserung des billigen, über das Meer hierhergeschleppten Fichtenholzes in dunklen Linien und Wirbeln hervortrat: Es war, als starrten ihr kleine Gesichter – nein, Fratzen – entgegen. Sie merkte, dass das ein Trugbild war, und Trugbilder sah sie nur, wenn das Fieber kam, dabei fühlte sie sich im Augenblick gar nicht fiebrig, nur schwach. Schwach und unpässlich. Und als wäre das alles noch nicht schlimm genug, huschte in dem Augenblick, als sie den Fuß auf die erste Stufe setzen wollte, ein dunkler Schatten – Schlange? Eidechse? Maus? – unter der Treppe hervor, und sie musste einen Schrei unterdrücken, doch der Junge war schon da, machte ein, zwei schnelle Schritte und stampfte mit dem Stiefelabsatz auf das Ding, das dann nur noch Blut und Knorpel war.
    »Ma’am?« Der Junge zerrte an der Tür, um sie für sie zu öffnen, und sah sie dabei fragend an: Sie war die Invalidin, sie benahm sich seltsam, sie war ein Gespenst wie Miss Havisham in Große Erwartungen , eine Harpyie, eine Hexe, und sie wusste, dass sie sich zusammennehmen, das Positive sehen und stark und energisch sein musste. Sie zwang sich, durch die Haustür in das vordere Zimmer zu treten, und dachte, dass es wenigstens zwei Stockwerke gab, wenigstens das, als sie der nächste Schock traf.
    Will konnte von ihr nicht erwarten, dass sie hier lebte – niemand konnte hier leben. Der Raum war unbewohnbar, so primitiv und hässlich wie nur irgendeiner, den sie je gesehen hatte. Die Dielenbretter hatten nie einen Tropfen Lack oder auch nur Öl gesehen und waren zerkratzt und schrundig von dem Sand, der sich hier drinnen beinahe so wohl zu fühlen schien wie auf dem Vorplatz. An den Fenstern hingen keine Vorhänge. Das Mobiliar – wenn man es so nennen wollte – bestand aus einem halben Dutzend Holzstühlen, einem langen Tisch, dessen Platte tiefe Kerben aufwies, und einer ausgebleichten Anrichte, die aussah, als als wäre sie aus einem Wrack geborgen worden, was, wie sie später erfuhr, tatsächlich der Fall war. Kein Teppich. Keine Bilder, kein Porzellan, keinerlei Zierat. Am schlimmsten war, dass niemand sich die Mühe gemacht hatte, die Wände zu streichen: Sie waren lediglich dünn übertüncht, offenbar mit derselben Farbe, die man für die äußere Verschalung verwendet hatte. Dies war kein Raum, sondern eine überdimensionierte Schachtel, ein Stall, an dessen Rückseite sich zwei winzige Schlafzimmer, nicht größer als Klosterzellen, und eine noch roher gezimmerte Tür befanden, die in die angebaute Küche führte. Alles roch nach ... ja, nach was? Nach Schaf . Danach roch es hier: als hätte die ganze Herde das Haus als Stall benutzt.
    »Ma’am?«
    Sie kam zu sich – der Junge stand da und erwartete etwas. Flehend sah er sie an: Er wollte nur helfen, das sah sie, er wollte nur tüchtig sein, die Sachen vom Schlitten laden und wieder hinunterfahren, damit Will und die Mädchen und Adolph ihn wieder und wieder beladen konnten, bis alles, was sie mitgenommen hatten, in diesem leblosen, trostlosen Rattenloch von einem Haus untergebracht war, das niemals auch nur ansatzweise ein Zuhause sein würde, ganz gleich, mit wieviel Hoffnung oder Optimismus oder guter Laune sie sich an die Arbeit machte, und zum zweitenmal in zwei Minuten wurde ihr bewusst, dass sie den Jungen verlegen machte. Schlimmer: Sie machte ihm angst.
    »Ja?«
    »Soll ich ...? Ich meine, soll ich vielleicht ...? Weil ... Captain Waters wird sich fragen, wo ich eigentlich bleibe, und er kann manchmal ganz schön streng sein ...«
    »Ja«, sagte sie, und ihre Stimme klang seltsam, als drückte ihr etwas die Kehle zu, und es kostete sie Mühe, sich zu beherrschen. »Geh nur. Tu, was man
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