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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition)
Autoren: T.C. Boyle
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wieder an und ging zum Bett. Es war ein Zimmer in einem vom Wind belagerten Haus, aus dem jeder Rest von Wärme verschwunden war, weil niemand dagewesen war, der die Kälte gespürt hätte, weil es eine heruntergekommene, trostlose Bruchbude war. Sie erschauerte, doch sie wollte sich nicht mit der schmutzigen Decke zudecken, selbst wenn sie erfror, und so legte sie sich auf die Matratze, bettete den Kopf auf einen Arm, zog die Beine an und krümmte sich zusammen. Schlaf, sie brauchte Schlaf. Wenn sie nur ein wenig ausruhen könnte, würde es ihr bald bessergehen, ganz bestimmt. Sie schloss die Augen. Ihr Atem ging langsamer. Und das Zimmer mit seinen wirbelnden Staubflocken und dem fleckigen Schrank in der einen und dem Nachttopf in der anderen Ecke verschwand im Nichts.

DIE KÜCHE
    Sie erwachte von einem leisen Wummern, das wie das Klopfen eines riesigen Herzens war, eines Herzens, so groß wie das Haus. Wumm, wumm, wumm. Sie starrte an die fremde, unvertraute Wand und wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie war, doch dann, mit einemmal, fiel ihr alles wieder ein: Sie war auf einer windgepeitschten Insel, einer fünfunddreißig Quadratkilometer großen Insel in der wogenden Weite des Pazifischen Ozeans, auf der es nichts anderes gab als Natur und eine riesige Schafherde, Tiere, die im Grunde Geld auf Beinen waren, Einkommen, Wachstum, blökende, wolleproduzierende Dollarsäcke – so jedenfalls sah Will es. Will, dessen schwere Schritte jetzt auf der Treppe erklangen: wumm, wumm. Sie lag ganz still, zählte die Sekunden zwischen ihren Atemzügen und kämpfte gegen den Hustenreiz an, denn das erste Husten würde zu weiterem Husten und immer mehr Husten führen und sich wieder einmal zu einem nicht enden wollenden Anfall steigern.
    Die Schritte verharrten vor der Tür. Ein Klopfen und dann Wills Stimme, leise und fragend: »Marantha, bist du da? Schläfst du?«
    Sie kam zu sich – es war Neujahr, sie waren in ihrem neuen Zuhause, sie waren hier und nirgendwo anders, und sie würden Ordnung schaffen, diesen Tag feiern, leben und atmen und die Luft genießen, die jungfräulich reine Luft –, aber sie war noch nicht soweit. Sie brauchte noch eine Minute. Nur eine Minute. Sie gab keine Antwort.
    Die Tür wurde langsam geöffnet, und da war Will. Er stand auf der Schwelle und spähte herein, und in seinem Gesicht hielten sich das Hochgefühl, das er, wie sie wusste, verspürte, und die pflichtschuldige Sorge um sie die Waage. Die pflichtschuldige Sorge, die ihm gebot, die Stirn in Falten zu legen, mitleidig zu blicken und seine großen, geschäftigen Hände vor dem Bauch zu falten, als wüsste er nicht, wohin damit. »Ist es schlimm?« fragte er und machte einen Schritt, als wollte er zu ihr kommen, doch das wollte sie nicht, noch nicht.
    Sie sprach, ohne den Kopf zu heben. »Wir werden waschen müssen«, sagte sie mit tonloser, rauher Stimme, der Stimme einer Frau, die dabei war zu schrumpfen, bis ihre Haut bloß noch ein Mantel, ein Sack war. »Ich hoffe, du verstehst das. Und zwar sofort. Als allererstes.«
    »Ja«, sagte er und sah ihr kurz ins Gesicht, bevor sein Blick zur Wand ging, zum Fenster, irgendwohin, wo sie nicht war, »ja, natürlich. Du hast recht.« Er war groß, eins fünfundachtzig, und wog fast hundert Kilo – ein starker, solider Mann, ihr Mann, ihre Kraft und Stärke, und in diesem Augenblick tat er ihr leid, weil sie seine Begeisterung nicht teilen konnte, denn ihr ging immer nur ein Gedanke durch den Kopf: Für das hier hatten sie zehntausend Dollar bezahlt? Die letzten zehntausend Dollar, die sie besaß? Was, wenn es nicht gut lief, wenn das Schiff nicht kam oder wenn es kam und mit der Ladung Wolle, die ihren Gewinn darstellte, auf Grund lief und unterging? Was sollten sie dann tun? Schafe schlachten und sich in ihre Felle hüllen und heulend herumlaufen wie die Indianer, die diese Felseninsel schon vor Ewigkeiten aufgegeben hatten, die womöglich an Mangel und Trübsal gestorben waren?
    »Ist gut«, sagte er, noch leiser jetzt, und sein Blick kehrte zu ihr zurück. »Du wirst sehen, bis zum Abend ist alles gewaschen und getrocknet.«
    Sie gab ihm lange keine Antwort. »Schick Ida rauf«, sagte sie schließlich. »Und Edith. Wo ist Edith?«
    Und dann veränderte sich alles, als hätte sie die Seite eines Buchs umgeblättert. Will schloss leise die Tür. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe und dann Idas und Ediths Stimmen. Sie setzte sich auf und stellte die Füße fest auf den Boden,
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