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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition)
Autoren: T.C. Boyle
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und der Boden bewegte sich nicht, denn er war nicht das Deck eines Schiffs. Alles war fest und unverrückbar in dieser mineralischen Welt, an diesem Ort, wo sie lebte. Sie holte vorsichtig Luft und hielt sie an, und im nächsten Moment war das Gewicht verschwunden, das auf ihrer Brust gelastet hatte, und sie konnte frei atmen und an all die Dinge denken, die erledigt werden mussten: die Wäsche, die Kleider, die Möbel, das Auspacken. Sie schämte sich. Was machte es schon, dass das Haus schmutzig war? Das war ja kein unabänderlicher Zustand. Man konnte es putzen. Es präsentabel, ja gemütlich machen. Das konnte man immer.
    Sie erhob sich und strich ihren Rock glatt. Und dann stand sie vor der Schlafzimmertür auf dem oberen Treppenabsatz, und die Wärme des gusseisernen Ofens im Erdgeschoss zog herauf. Der penetrante feuchte Geruch nach Schafen wurde verdrängt vom Duft des Kaffees, den Ida – Gott segne sie – aufgesetzt hatte. Marantha ging als erstes in die Küche. Ida, die einen dunklen Streifen – Asche? Russ? – auf der Wange hatte, fuhr hektisch herum. »Ich wollte gerade mit dem Tablett kommen – Kaffee, mit zwei Stück Zucker, wie immer, und Toast mit Butter.«
    »Lass nur«, sagte sie. »Du hast genug zu tun, das sehe ich ja. Ich trinke ihn hier.«
    »Hier?«
    In der gegenüberliegenden Ecke stand ein Küchenschrank. Die Fenster in den oberen Türen hatten Sprünge, und der Lack (olivgrün und cremefarben und hier und da gelbe Tupfen, die in dem Blumenmuster auf den Türen die Blüten darstellten) war an verschiedenen Stellen bis auf das Holz abgetragen, als hätte jemand daran gekratzt oder genagt. Neben der Hintertür, direkt unter dem Fenster, standen ein Tisch mit Wachstuchdecke und zwei Stühle. An der Wand zwischen der Tür und dem Ofen waren zwei Reihen von Haken, an denen schwarze Töpfe und Pfannen hingen. Und ein Küchenbeil. Ein Ausbeinmesser. Und etwas, was wie eine Art Dreschflegel aussah – aber nein, das war eine Kornmühle. Und daneben, in der Ecke, wo das Ofenrohr nach oben zum offenen Dachgebälk abknickte, hing an einem Nagel ein selbstgemachter Kalender, dessen Blätter sich an den Ecken aufbogen. Sie ging hin und kniff die Augen zusammen. März 1886 , vor beinahe zwei Jahren also, und sie sah, dass ein Tag, der Zehnte, schwarz umrandet war.
    »Ma’am?« Ida hatte das Tablett in der Hand und hielt es ihr wie eine Opfergabe hin.
    »Stell es auf den Tisch.«
    Sie ging zum Kalender und strich mit dem Finger über den akkurat gemalten Kreis um die Zehn. Es musste wohl Mrs. Mills gewesen sein, die dieses Datum markiert hatte. Was war es wohl? Ein Geburtstag? Ein Jahrestag? Sie hatte Mrs. Mills nur einmal gesehen, in dem Haus in Santa Barbara, und in ihrer Erinnerung war sie eine unscheinbare, reizlose Frau mit altmodischen Kleidern und grauem Haar gewesen, nicht viel älter als sie selbst, eine Frau, die beinahe siebzehn Jahre auf dieser Insel, in diesem Haus gelebt hatte. Die an diesem Tisch gesessen, die Tage und Monate in ordentlichen Reihen eingetragen und Mittwoch, den zehnten März, markiert hatte, in Erwartung eines Ereignisses, das längst vergangen war. Geschichte. Alles war Geschichte.
    »Vermissen Sie sie?« hatte Marantha sie gefragt. »Die Insel, meine ich. Wo Sie doch so viele Jahre dort gelebt haben.« Die Frau hatte gestutzt, als wäre ihr dieser Gedanke noch nie gekommen. Dann hatte sie sich im Sessel zurückgelehnt und tief geseufzt – die Männer waren außer Hörweite, auf der vorderen Veranda, wo sie auf dem Geländer saßen und miteinander redeten wie Brüder, die sich ewig nicht gesehen hatten. Das Sonnenlicht lag in Streifen auf dem Teppich, und auf der Straße glitten Kutschen vorbei, als wären sie Boote auf einem Fluss. »Man ist schon einsam da draußen, das muss ich sagen. Aber die Ruhe tut einem gut. Man hat nicht den Dreck und den Lärm der Stadt. Die Verbrecher. Die Betrüger und Anwälte. Meine Jungs – Jack und William – wollten natürlich weg. Keine Frauen, Sie verstehen.«
    Siebzehn Jahre. Mrs. Mills. Nennen Sie mich Irene .
    Sie setzte sich nicht, denn sie fühlte sich mit einemmal voller Energie, als wäre sie irgendwie in einen Wettstreit mit dieser abwesenden Frau getreten, als wäre sie selbst eine Hausfrau, eine Bauersfrau, jedenfalls bis auf weiteres. Statt dessen aß sie im Stehen und beugte sich über den Tisch, um einen Schluck aus der Tasse zu trinken und nach dem Toast auf dem gesprungenen Teller zu greifen, den sie noch nie zuvor
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