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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition)
Autoren: T.C. Boyle
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nicht. Captain Waters sagt, ich bin seetüchtig. Und Edith auch. Edith ist auch seetüchtig. Das heißt, dass – «
    »Ja, ich weiß.« Sie ließ den Blick über das Gepäck und die Vorräte gleiten, über die wenigen Möbelstücke, die Will ihr zugestanden hatte, weil es nicht praktisch war, das ganze Mobiliar auf die Insel zu schaffen, solange sie nicht wussten, wie sie mit dem Klima dort zurechtkommen würde. »Kannst du dir vorstellen, dass heute ein neues Jahr anfängt?«
    »Ja, kann ich.«
    Das Schiff tauchte in ein Wellental und wurde wieder emporgehoben. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte, Druck auszuüben und nichts herauszulassen, denn sie spürte, dass sie gleich wieder husten würde, und dann würde sie sich wieder übergeben müssen, dessen war sie sich sicher. »Alles vergeht so schnell«, sagte sie, aber eigentlich sagte sie es gar nicht mehr zu Ida.
    Sie war an Deck, als die Insel schaukelnd in Sicht kam – schaukelnd, weil auf einem Schiff alles schaukelte, weil alles sich hob und senkte, einschließlich ihres Magens. Es war ein dunkelbrauner, von leuchtendweißen Streifen durchzogener Klumpen, es sah aus wie ein gutgereiftes Stück Rindfleisch, das man für sie ganz allein auf den großen blauen Teller des Ozeans gelegt hatte. Dabei würden sie in den kommenden Tagen und Wochen und Monaten nicht Rindfleisch essen, sondern Hammel – und Truthahn, aus der Schar, die der frühere Pächter gehalten hatte. Und Fisch vermutlich, denn den gab es hier ja wohl reichlich. Andererseits hatte sie sich nie viel aus Fisch gemacht – abgesehen von Hummer, aber das war ja auch eigentlich kein Fisch, oder? – und kannte keine andere Zubereitungsart, als ihn zu braten, bis er trocken war und nach nichts mehr schmeckte.
    Der Wind wehte ihr ins Gesicht, ein kalter Wind, der kalte Gischt mit sich trug. Segeltuch klatschte, Seile summten, aber der Wind fühlte sich gut an, sauber und rein, und der Druck auf ihre Brust begann nachzulassen. Als sie in der Bucht unterhalb des einzigen Hauses auf der Insel vor Anker gingen, des Hauses, das jetzt ihnen gehörte wie alles andere – die Felsen, die Möwen, die Sanddünen am Fuß der Steilküste, die Schafe, die auf den fernen grünen Hügeln aussahen wie verstreute Wolkenfetzen –, war sie so aufgeregt, als wäre sie selbst noch ein Mädchen, so aufgeregt wie Edith, die während der ganzen Fahrt keine zwanzig Minuten unter Deck verbracht hatte. Will hatte ihre Erwartungen gedämpft: Das Haus sei nichts Besonderes, ein einfaches Schäferhaus aus Holz, vor siebzehn Jahren gebaut von Mr. Mills, ihrem neuen Partner in der Pacific Wool Growing Company , aber das hatte sie nicht davon abgehalten, es sich in den vergangenen zwei Monaten jeden Tag vorzustellen. Wie würde es wohl aussehen? Die Zimmer – wie waren die Zimmer angeordnet? Und wie war die Aussicht? Würde Edith ein eigenes Zimmer haben oder würde sie sich eins mit Ida teilen müssen? Und was war mit Adolph Bierson, dem Rancharbeiter, dessen Gesicht ihr schon bei der ersten Begegnung heute morgen nicht gefallen hatte? Und Jimmie, der Junge, der in den vergangenen Monaten hier draußen auf alles aufgepasst hatte – wo schlief der eigentlich?
    Das Schiff schwang an der Ankerkette herum, so dass die Insel hinter ihr war und sie zurücksah in die Richtung, aus der sie gekommen waren: Jenseits der Einfahrt in die Bucht, jenseits der wie zu Eisen gewordenen Wellen war das Festland nur noch als dunkler Streifen am Horizont zu sehen. Dann ließen sie das Ruderboot zu Wasser, und Will lief an Deck auf und ab, als wäre er nicht fünfzig, sondern halb so alt und nicht bei Chancellorsville knapp oberhalb der linken Hüfte von einer Miniékugel getroffen worden, und ja: Sie, Edith und Ida sollten als erste übergesetzt werden, zusammen mit ein paar Säcken und Kisten. Adolph würde rudern, und Jimmie würde sie mit einem der Maulesel und dem Schlitten am Strand erwarten und sie den langen Hügel hinauf zum Haus bringen. Und als Will sie mit seinen großen, sehnigen Händen stützte und ihr die Strickleiter zum Boot hinunterhalf, Feuer im Blick und Frische im Atem, Nachgeschmack seiner eigenen Begeisterung, versicherte er ihr, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, denn heute sei ein Feiertag, und sie würden den ganzen Rest des Nachmittags für sich haben. »Ich mache mir keine Sorgen, Will«, sagte sie, als sie die Leiter hinunterkletterte, »nicht, wenn ich in deinen Händen bin.« Aber der Wind war so
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