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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Autoren: Matthias Politycki
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angeblich alle suchten. Aber nein, Odina hatte ihn ins Serafschan-, ins Hissor-, ins Fangebirge geführt, über fünftausend Meter hohe Pässe und gletscherbedeckte Gipfel, am liebsten wäre er wahrscheinlich mit Kaufner bis in den Pamir gewandert, ins Wakhantal womöglich, woher er stammte, und von dort gleich in den Hindukusch und nach Afghanistan hinüber, so weit wie möglich weg von Samarkand, ins Sichere. Odina! Einen ganzen Sommer lang, so schien es plötzlich, hatte er ihn an der Nase herumgeführt.
    Und auf all seinen scheinheilig gewählten Um- und Ab- und Irrwegen war er in diesem Gang vor Kaufner hergeschlendert und -geschlappt, dem wiegenden Gang, solang es flach blieb, immer eine Spur zu langsam, als wolle er damit provozieren, und dann in plötzlichem Tempo, sobald es bergan ging, als wolle er nun erst recht provozieren. Wie Kaufner sie schon immer gehaßt hatte, die Schlappen, in denen der Junge leicht über die Geröllfelder glitt, wo er selber trotz seiner Wanderschuhe viel zu oft den Tritt verlor, abrutschte, sich um ein Haar den Knöchel verstauchte. Wie er sie heute noch haßte, Odinas nackte Hacken in diesen Schlappen! Und wie er’s auch haßte, wenn Odina beim Gehen eines seiner Lieder sang, er, der in den Bauernhäusern der Täler wie den Schäferhütten der Hochebenen ein gefeierter Sänger war, mit seinen achtzehn oder neunzehn Jahren bereits eine Berühmtheit, wenigstens im tadschikischen Teil des Gebirges. Nein, Kaufner hatte Odinas Gesang, jetzt gestand er’s sich mit Inbrunst ein, hatte ihn nie gemocht, die monoton hin und her schwingenden, sich endlos wiederholenden Melodien. Und erst recht nicht, wenn sie plötzlich abrissen und Odina umdrehte, um seinem Herrn – wie er ihn trotz aller Ermahnungen nannte – an einer schwierigen Stelle im Fels die Hand entgegenzustrecken: Alles in Ordnung, Herr? Eines Tages würde er ihn abknallen, während er da so scheinheilig vor ihm herging, ohne Vorankündigung würde er ihn einfach übern Haufen schießen, nicht mal einen Grund würde er ihm zuvor nennen, er hatte’s nicht anders verdient.
    Was hast du da gerade gedacht? Meinst du nicht vielmehr den Kirgisen? Ohne den Jungen wärst du in diesen Bergen schon ein paarmal gestorben. Er hat alle Freundschaft verdient, die du geben kannst, reiß dich zusammen.
    Dennoch beobachtete ihn Kaufner voll Mißmut und Mißtrauen, wie er, weit voraus, an einem verkohlten Baum innehielt, sich verneigte, wieder aufrichtete, wie er seine Unterarme anwinkelte und die Handteller zum Himmel hin öffnete, in dieser Stellung verharrte. Der Pfad hatte sich nach einer Weile fast rechtwinklig von der Schlucht abgewandt, in beträchtlicher Höhe bereits, und dann am unteren Rand eines Geröllfelds entlanggeführt. Nun stand da, allein auf weiter Flur, ein vom Blitz gespaltener Baum. In seinen schwarz schillernden Ästen hingen ein paar Stoffetzen; die wenigen, die diesen Weg gingen, ließen ihre Sorgen und Wünsche anscheinend auch hier, am magischen Ort, zurück. Kaufner schloß zu Odina auf, sah ihn wie einen Verräter scheel an, schwieg. Odina strich sich mit beiden Händen langsam der Länge nach übers Gesicht, damit war das Gebet beendet, und blickte übers Geröllfeld, das in trostloser Endlosigkeit rechter Hand hangaufwärts führte. Als ob es dort etwas zu entdecken gegeben hätte. Selbst der Esel stand ratlos. Nachdem der Junge die verbliebene Hälfte seines Taschentuchs an einen Zweig geknotet hatte, kein Wort mit seinem Herrn wechselnd, er schien die Feindseligkeit zu bemerken, die mit einem Mal zwischen ihnen lag, nachdem der Junge den Esel mit einem kurzen »A-chrrr« angeherrscht hatte, ging es weiter.
    Und sogleich, im gewohnten Abstand hinterherfolgend, überließ sich Kaufner wieder seinen wüst hin und her schießenden Spekulationen, zunächst über Januzak und wie er ihn zur Strecke bringen würde. Dann über Odina, als ob er durch den heutigen Zwischenfall in völlig anderes Licht geraten, als ob alles, was Kaufner je mit ihm erlebt, neu zu überdenken wäre.
    »Führ mich zu den Gräbern«, hatte er ihm gesagt, da sie sich am vereinbarten Tag getroffen, mehr nicht.
    »Zu allen, Herr?«
    Welch eine merkwürdige Replik. Warum hatte Odina denn nicht gefragt, zu welchen? Zum ersten Mal seit seiner Ankunft war Kaufner dermaßen direkt geworden, nun ja, es war ihm herausgerutscht, in Zukunft würde er vorsichtiger sein. An der ausweichenden Nachfrage des Jungen hatte er sofort gespürt, daß er ein
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