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Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa
Autoren: Wladimir Kaminer
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auskannte als ich.
    Die sexuelle Aufklärung im Westen ist sowieso nicht zu toppen. Als meine Kinder noch in den Kindergarten gingen, hatten wir ständig eine Art intellektuellen Austausch mit ihnen. Ich las den Kindern gelegentlich aus Büchern über Seeabenteuer, Prinzen, Piraten und große Gefühle vor. Sie brachten dafür erotische Dichtung »made in Kindergarten« nach Hause. »Dreiunddreißig nackte Weiber ficken mit dem Kugelschreiber« zum Beispiel.
    Das Wichtigste bei einer Lyriklesung ist bekanntlich die Wahl des strategisch richtigen Zeitpunkts; die Poesie muss die Menschen überraschen, sie muss sie quasi dort abholen, wo sie stehen. Die »Dreiunddreißig Weiber« wurden mit einem engelsgleichen Gesichtsausdruck kurz vor dem Dessert am Mittagstisch vorgetragen und sorgten mehrmals für Schweigen beim Essen.
    In der Schule werden die Kinder unter anderem mit Filmen aufgeklärt, deren Inhalt ich hier leider nicht wiedergeben kann, weil die Angaben zu verwirrend sind. Der letzte Versuch meiner Tochter, uns den Film nachzuerzählen, begann mit dem Satz: »Wenn Mann und Frau auf einen Penis treffen …«. An dieser Stelle wurde die Erzählung durch einen unkontrollierbaren Lachanfall der Anwesenden unterbrochen und später nicht weiter fortgesetzt. Das verunsicherte Kind beschloss, den Rest der Geschichte erst einmal für sich zu behalten.
    Unser krampfartiges Lachen bedeutete jedoch nur, dass wir Erwachsene als Kinder nie richtig aufgeklärt wurden. Nicht im Kindergarten, nicht in der Schule, und später auch nicht. Wir waren auf praktische Erfahrungen angewiesen. Theoretische Literatur, Sachbücher zu diesem Thema gab es kaum. Ich erinnere mich nur an eine medizinische Enzyklopädie (Menschen längs und quer geschnitten, Knochen, Arterien, Muskeln), die neben der technischen Enzyklopädie (U-Boote, Panzer, Flugzeuge) in keinem Haushalt fehlen durfte.
    Wie viele junge Menschen in der Pubertät interessierte ich mich damals hauptsächlich für die Konstruktion des menschlichen Gehirns, der Nervenzellen und Handgelenke. Doch diese Bibel der Biologie hatte übernatürliche Eigenschaften. Kaum nahm man den Band in die Hand, öffnete er sich wie von Zauberhand auf der Seite mit den weiblichen Geschlechtsorganen. Der Künstler, der diese Skizzen angefertigt hatte, muss unter starken Depressionen gelitten haben. In seinen gestochen scharfen Darstellungen waren die Organe derart kompliziert und unübersichtlich, dass alle U-Boote dagegen wie Kinderspielzeug wirkten, von Panzern gar nicht erst zu reden. Ähnlich wissenschaftlich war der dazugehörige Artikel. Je mehr man sich in den Stoff vertiefte, desto unverständlicher wurde er. Am Ende war man froh, so etwas nicht zu besitzen.
    Diese mangelhafte Aufklärung hatte zur Folge, dass viele aus meiner Generation auch heute noch nicht wirklich wissen, wie und was. Das ist uns aber inzwischen egal.

Langweilige Kindheit
    Allgemein wird behauptet, die Kindheit sei die schönste Zeit des Lebens. Was kann schöner sein, als in einem Kinderwagen durch die Gegend gefahren zu werden und sich nichts sehnlicher zu wünschen, als eine große Portion Erdbeereis zu essen und eine Runde Riesenrad zu drehen. In Wirklichkeit ist die Kindheit furchtbar langweilig. Alle sind nett zu dir, wollen dir dies und jenes kaufen, gleichzeitig wollen dich aber alle erziehen, und noch der letzte Lump kommt mit seinen Weisheiten dahergezwitschert.
    Ein Kind zu sein ist wie ein Hund zu sein. Man hat lieb und nett zu Fremden und hingebungsvoll zu der eigenen Familie zu sein, wobei es keine Rolle spielt, was für Menschen das sind. Man sucht sich seine Eltern nicht aus, lautet eine alte Halbweisheit, und in der Regel sind es komische Leute. Sie schenken einem Riesenlutscher zum Geburtstag und machen sich furchtbar wichtig.
    Das Schlimmste an der Kindheit ist aber: Es passiert überhaupt nichts. Der Alltag ist geregelt wie in einem Kloster oder in der Armee zu Friedenszeiten. Dabei halten viele Erwachsene die Kindheit für spannend. Aber Gott weiß, wie ich mich als Kind gelangweilt habe: um acht Uhr früh zur Schule gehen. Nach der Schule ein bisschen malen, dann Fernsehen gucken. Die verlorene Expedition wurde im Dritten mit Untertiteln für Taubstumme jeden Tag gezeigt, jahrelang um fünfzehn Uhr dreißig. Danach blätterte ich in meinem Lieblingsbuch, spielte mit der Katze, aß Abendbrot mit meinen Eltern, guckte noch einmal kurz fern, stellte die Zinnsoldaten unter dem Bett auf, schmuste mit der
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