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Russische Freunde

Russische Freunde

Titel: Russische Freunde
Autoren: Barbara Lutz
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müde und legte sich hin. Ich selbst schlief auf dem Sofa.
    Als der Abend kam, bereitete ich uns ein Abendessen zu.
    «Wir hätten heute doch rausgehen können», meine Mutter sah zum Küchenfenster hinaus. Es war noch früh, trotzdem begann es zu dämmern. Die Tage wurden kürzer und kürzer.
    «Du schläfst hier, oder?», sagte sie später, nach dem Essen. Es war keine Frage und auch keine Einladung, sondern eine Feststellung. Sie brachte mir ein Kissen aus ihrem Schlafzimmer.
    «Das Sofa ist doch zu kurz für dich», stellte sie fest.
    «Ich kann ja meine Beine anziehen», antwortete ich. Wir wünschten uns eine Gute Nacht und Mutter schloss die Tür zu ihrem Zimmer.
    Als ich alleine war, kam die Angst zurück. Sollte ich zur Polizei gehen? Irgendwohin in die Ferien verschwinden und erst nach einiger Zeit wieder auftauchen? Verschwinden für wie lange? Was, wenn die Polizei Juris Mörder nicht oder noch lange nicht fand, war dann ich dran? Waren Juris Mörder hinter mir her? Und warum genau? Was hatte Tobias damit zu tun?
    Ich nahm die Flasche Kirsch, die Mutter in einer Vitrine in der Stube aufbewahrte, an mich und stieg in den Dachboden hoch. Ich setzte mich auf die rohen Holzbretter des Bodens, der von einer feinen, dunkeln Staubschicht überzogen war, die Schnapsflasche zwischen den Knien. Es roch nach Mottenkugeln. Die Holzgitterstäbe des Abteils warfen schwache Schatten auf Kisten und Schachteln. Rund um mich türmten sich die Dinge auf, von denen meine Mutter sich nicht trennen wollte. Oder wir Kinder. Ich sah das Mikroskop, das meine Schwester und ich als Kinder erhalten hatten und dessen Eigentumsfrage wir nie klären konnten. Ski und ein Schlitten, meine Mutter hoffte immer noch auf einen gemeinsamen Urlaub im Schnee. Die Ski waren bald dreissig Jahre alt. Ich dachte daran, dass wir, ich und meine Schwester, irgendwann in der Zukunft jede dieser Schachteln würden öffnen müssen. Und uns Stück für Stück entscheiden mussten, was mit den Gegenständen geschehen sollte. Mutter würde nicht ewig leben.
    Obschon der Kirsch in der Kehle brannte und ich Magenschmerzen bekam, trank ich weiter. Ich wartete auf die Leichtigkeit. Das Licht im Treppenhaus, das ich durch die offene Dachbodentür sehen konnte, ging an und wieder aus. Langsam wurde es im Haus und auf der Strasse unten still. Es war vermutlich spät. Ich trank.
    Bis ich alles klar erkennen konnte. Juri hatte seinen Verfolgern gesagt, dass der Stick bei mir sei. Das war mehr als wahrscheinlich, er musste sie doch beruhigen und sich verteidigen. Deshalb hatten sie unser Haus, auch nach Juris Tod, von der Tankstelle aus beobachtet. Und jetzt versuchten sie, mich einzuschüchtern. Gussew steckte dahinter, und er wollte mir Angst machen. Damit ich ihm ohne Fragen zu stellen den Stick überliess, den sie nicht finden konnten. Die Attacke mit dem weissen Auto war Teil ihrer Einschüchterungsstrategie.
    Nun, wo ich mürbe war, würde Gussew auf mich zukommen und den Stick zurückfordern. Je länger ich sass, umso sicherer war ich. Ich wusste, was kam und ich wusste, woran ich war. Ich verstand alles. Damit wurde ich endlich die Angst los, die mir seit der Begegnung mit dem weissen Auto auf der Brust sass. Ich würde ihnen sagen, dass der Stick längst bei der Polizei war. Noch besser, ich würde selbst zu Gussew gehen, um es ihm zu sagen. Um die Sache endlich aus der Welt zu räumen. Es nützte ihnen nichts mehr, mich zu verfolgen, das sollten sie wissen.
    Zuversichtlich stieg ich vom Dachboden herunter, immerhin nüchtern genug, um möglichst wenig Lärm zu machen. Ich wachte im Morgengrauen auf, steif und durchfroren, auf dem Boden neben dem Sofa. Bei meinen Überlegungen hatte ich vergessen, dass Juri und vermutlich auch Tobias ermordet worden waren. Nicht nur bedroht und eingeschüchtert, sondern ermordet. Ich kroch auf das Sofa, deckte mich zu und schlief wieder ein, bis mich viel später am Vormittag der Geruch von Kaffee und leise Geräusche aus der Küche weckten.
    Als ich am späten Vormittag am Bahnhof aus dem Tram stieg, sehnte ich mich nach einem ruhigen Morgen, meinetwegen sogar nach Jobabsagen im Briefkasten und nach Bewerbungen schreiben. Ich fühlte mich, der Kirsch war daran nicht unbeteiligt, ziemlich mies. Meine Jeans hatte durch das Sitzen auf dem staubigen Dachboden schwarze Flecken abbekommen, und sowieso trug ich seit vorgestern die gleichen Kleider.
    Aber auch nüchtern und verkatert blieb ich bei meinem Entschluss, mit Grigori
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