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Russendisko

Titel: Russendisko
Autoren: Kaminer,Wladimir
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Mutter echte Mozartkugeln, die rundesten Pralinen der Welt, die ich seither immer zu Weihnachten geschenkt bekomme. In Prag wären sie um ein Haar auf der Karlsbrücke mit dem Touristenbus eines anderen Veranstalters zusammengestoßen. In Amsterdam feierte die Königin gerade ihren Geburtstag, und viele schwarze Mitbürger tanzten vor Freude auf der Straße, als der RolandBus mit meiner Mutter dort ankam. In Verona besichtigte sie das Denkmal der Shakespeare'schen Julia, deren linke Brust von den vielen Touristenhänden bereits ganz klein und glänzend geworden ist. Nach London konnte meine Mutter nicht fahren, weil England nicht zu den Schengenstaaten gehört und sie erst in Calais feststellte, dass sie für England ein ExtraVisum brauchte. Dafür fotografierte sie dann über Nacht jedes zweite Haus in Calais. Am nächsten Tag war der Bus bereits auf der Heimfahrt und nahm meine Mutter wieder mit - zurück nach Berlin.
    Die Tatsache, dass sie Big Ben und der Tower-Bridge nicht einmal nahe gekommen war, machte ihr nicht viel aus. Sie ist inzwischen eine gewiefte Busreisende, für die das Ziel nicht so wichtig ist wie der Weg.
    S üß e ferne Heimat
    Meine Frau Olga wurde auf der Insel Sachalin geboren, in der Stadt Ocha. 1000 Kilometer von Tokio entfernt, 10000 Kilometer von Moskau, 12000 von Berlin. In ihrer Geburtsstadt gab es drei Grundschulen mit den Nummern 5, 4 und 2. Die Nummer 3 fehlte, in Ocha kursierte jedoch das Gerücht, dass diese Schule vor 30 Jahren von einem Schneesturm ins Meer gefegt worden war, weil sie ein Stockwerk zu viel hatte. In unmittelbarer Nähe der drei Schulen befanden sich die Straf- und Besserungsanstalten der Stadt: neben Schule 5 das Gerichtsgebäude, neben Schule 4 die Irrenanstalt und neben Schule 3 das Gefängnis. Diese Nachbarschaft hätte eine große erzieherische Wirkung und erleichterte den Pädagogen in Ocha die Zähmung der Jugend. Eine Handbewegung, ein Blick aus dem Fenster wies die Jugend darauf hin, was sie erwartete, falls sie die Hausaufgaben nicht rechtzeitig erledigten. Zur Freude der Kinder gab es jedes Mal schulfrei, wenn ein Schneesturm auf der Insel wütete oder die Temperatur unter 35 Grad minus fiel. Dann saßen alle zu Hause und warteten auf die Herbstferien. Es existierten nämlich nur zwei Jahreszeiten auf Sachalin, der lange Winter und dann, ab Ende Juli, wenn sich der letzte Schnee auflöste, der Herbst. Mit ihm kamen viele Schiffe, die leckere Sachen wie getrocknete Wassermelonenkrusten für die Kindergärten brachten, damit die Kinder etwas zum Beißen hatten. Aus China kamen getrocknete Ananas, getrocknete Bananen, gefrorene Pflaumen und die chinesischen Sandstürme. Aus Japan kamen die japanischen »Big John«-Jeans, die aber immer zu klein waren. Trotzdem standen die Bewohner von Sachalin Schlange, um sie zu ergattern. Alle schimpften auf die Japaner und
    wunderten sich, wie sie mit solch kurzen Beinen und derart fetten Hintern überleben konnten. Doch jede Familie hatte eine Nähmaschine zu Hause und nähte sich dann ihre »Big Johns« zurecht.
    Das Unterhaltungsprogramm auf der Insel war relativ eintönig. Im Winter saß meine Frau mit anderen Kindern im einzigen Kino der Insel, das »Erdölarbeiter« hieß, und sah sich alte russische und deutsche Filme an: »Drei Männer im Schnee«, »Verloren im Eis« und »Drei Freunde auf hoher See« zum Beispiel. Die Kinder waren die ersten Einheimischen auf der Insel, außer den Nivchen, den Ureinwohnern, die in einem Reservat auf der Südseite der Insel langsam ausstarben. Die Eltern der Kinder waren alle Geologen oder Ölbohrer und kamen aus sämtlichen fünfzehn Republiken der Sowjetunion. Im Herbst gingen die Kinder gerne baden. Zwei Seen gab es in der Stadt. Der Pioniersee und der Komsomolzensee. Der Pioniersee war klein, flach und schmutzig. Der Komsomolzensee dagegen schön tief und sauber. Sogar ein wenig zu tief, deswegen wurden dort ständig Kinder vermisst. Jedes Jahr ertrank eines im Komsomolzensee. Es gab noch einen weiteren Badeort, den so genannten Bärensee, etwa zwei Kilometer hinter der Stadtgrenze in der Nähe vom Kap des Verderbens. Aber keiner traute sich dorthin, wegen der mutierten Waschbären, die unter dem Einfluss der chinesischen Sandstürme zu gefährlichen Wasserbewohnern geworden waren, zu einer Art Sachalin-Krokodil. Außer diesen Waschbären gab es noch andere Tiere dort: Braunbären, Füchse und jede Menge Hasen, die auf dem großen Feld hinter dem Krankenhaus lebten. Wölfe
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