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Russendisko

Titel: Russendisko
Autoren: Kaminer,Wladimir
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sie runter, hob den Mann auf und schleppte ihn die Treppe hoch. In ihren Armen fing der tote Elektriker an, Lebenszeichen von sich zu geben. Gerade als die beiden den zweiten Stock erreicht hatten, ging das Licht wieder an. Unter der elektrischen Beleuchtung erwies sich der halbtote Elektriker als ein vollbesoffener Penner, der es sich in unserem Keller gemütlich gemacht hatte. Als er wach war, bat er meine Frau höflich um ein paar Groschen, wo sie ihn doch sowieso schon mit sich herumtrage. Meine Frau stand etwas verlegen im Treppenhaus, noch immer in Gummihandschuhen, mit der Kerze in der einen Hand und dem Penner in der anderen. Sogar die Vietnamesen, die sonst immer so zurückhaltend sind,
    lachten herzlich über sie. Es ist heutzutage nicht leicht, große Taten zu vollbringen.
    Mein erster Franzose
    Der erste Franzose, den ich in Berlin kennen lernte, hieß Fabrice Godar. Wir beide und ein arabisches Mädchen wurden von einem ABM-Theaterprojekt angestellt, er als Kameramann, ich als Tontechniker und das Mädchen als Kostümschneiderin. Diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren speziell für die unteren Schichten des Volkes, die sonst kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt gehabt hätten: ältere Menschen, Behinderte und Ausländer.
    Ich hatte vom Arbeitsamt-Nord ein Schreiben bekommen. Wegen eines Bewerbungsgesprächs sollte ich in eine Kneipe namens Krähe kommen und zwar um 22.00 Uhr. Ich ging auch hin. An einem langen Tisch saßen etwa ein Dutzend Männer und Frauen. Ein schnurrbärtiger Kerl mit Zigarre und Whiskyglas in der Hand war der Anführer. Es war aber nicht Heiner Müller oder Jochen Berg, auch nicht Thomas Brasch oder Frank Castorf. Der hier sah Che Guevara ähnlich, und er plante eine Theater-Revolution. Mit meinem russischen Akzent wurde ich sofort eingestellt.
    Fabrice saß mittendrin. Wir wurden schnell Kumpel. Er entsprach völlig der klischeehaften Vorstellung, die ich von Franzosen hatte: Er war leichtsinnig, oberflächlich, weltoffen und frauenfixiert. Wir sangen zusammen die Internationale und Fabrice erzählte mir, er sei noch Jungfrau. Irgendwann beschloss er, mit Hilfe des ABM-Projektes seine Jungfräulichkeit ein für alle Mal loszuwerden und wurde der Liebhaber von Sabine. Sie war die Frau eines der Schauspieler, zehn Jahre älter als er und hatte einen erwachsenen Sohn. Für sie war es ein kleines Abenteuer, für Fabrice dagegen die erste große Liebe, mit allem was dazugehört. Ihre Beziehung endete wenig später auf echt französische Art. Der Mann kam früher
    als erwartet von der Probe nach Hause. Sabine versteckte Fabrice im Kleiderschrank. Nach ein paar Stunden wollte der Ehemann sich umziehen, machte den Schrank auf und entdeckte dort den französischen Kameramann. Ein Franzose im Schrank: Etwas derartig Blödes darf eigentlich nur in einem lustigen Film passieren. Hier war es jedoch eher traurig. Sabines Mann ging ins Theater und teilte allen mit, dass er nach diesem Vorfall nicht mehr in der Lage sei, die Hauptrolle in unserem Brecht-Stück zu spielen. Und das zwei Wochen vor der Premiere! Wir gingen daraufhin alle zu Sabine, um die Sache gemeinsam zu besprechen. Sie war voller Verständnis und strich Fabrice von ihrer Liebhaberliste. Der Franzose hatte danach einen totalen Zusammenbruch, er erschien nicht mehr im Theater und wurde immer depressiver. Eines Tages hielt er es nicht mehr aus und ging zu einem Psychotherapeuten, dem er alles über Sabine und den Schrank erzählte, und dass er seitdem nicht mehr schlafen könne. Der Arzt fragte ihn sofort, wie lange er denn schon arbeitslos sei. Das wäre er schon eine ganze Weile, was aber damit nichts zu tun habe, erklärte ihm Fabrice. Der Arzt war da ganz anderer Meinung und verpasste ihm ein neues Antidepressivum mit Dauerwirkung: eine deutsche Erfindung speziell für die Behandlung von Frührentnern und Langzeitarbeitslosen, die unter Schlafstörungen und Depressionen leiden. »Kommen Sie bitte in einem halben Jahr wieder, dann sehen wir weiter«, beruhigte ihn der Arzt. Die Spritze wirkte und wirkte. Fabrice wurde gleichgültig, schlief wie ein Baby, verbrachte den Rest der Zeit vor dem Fernseher und kuckte DSF. Er vergaß einzukaufen und sich zu waschen, sogar seinen Vater in Frankreich rief er nicht mehr an, was er sonst alle zwei Wochen getan hatte. Wir machten uns große Sorgen um ihn, wussten jedoch nicht so recht, wie ihm zu helfen war. Eines Tages kam sein Vater in einem großen Citroen an und brachte ihn nach
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