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Russendisko

Titel: Russendisko
Autoren: Kaminer,Wladimir
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gab es keine mehr. Der letzte Sachaliner Wolf wurde 1905 am Kap des Verderbens erschossen. Man ehrte ihn mit einem Beton-Denkmal, das jedoch irgendwann während eines Schneesturms umkippte und ins Wasser stürzte. Das Kap des Verderbens hieß nicht wegen des Wolfs so, sondern weil dort immer wieder die Flucht von
    Kartoga-Häftlingen zu Ende war, die versucht hatten, aufs Festland zu entkommen. Entweder gerieten sie unter Eis oder wurden von Soldaten erschossen.
    Alle auf Sachalin lebenden Erwachsenen bekamen eine Nordzulage, wodurch sich ihr Gehalt verdoppelte. Außerdem durften sie früher in Rente gehen. Die auf Sachalin lebenden Kinder bekamen nicht einmal ein einfaches Gehalt. Olga sah mit zwölf Jahren auf dem Flugplatz von Chabarowsk zum ersten Mal in ihrem Leben einen Spatzen. »Mama, Mama, schau mal, die riesigen Fliegen«, rief sie. »Das sind Spatzen, Spatzen, keine Fliegen, du dummes Kartogakind«, regte sich ein Mann auf, der seinem Äußeren nach gerade eine Freiheitsstrafe abgebüßt hatte und auf die nächste Maschine Richtung Süden wartete. Er lachte, rauchte gierig und fluchte. »Verdammte Spatzen, verfluchtes Land, verfluchte Kinder, verfluchte Taiga!«
    Mit 16 hatte Olga die Schule beendet und flog nach Leningrad, um dort einen vernünftigen Beruf zu erlernen. Einige Jahre später übersiedelte sie nach Deutschland, was zwar schrecklich weit von ihrer Heimat entfernt ist, aber Berlin gefällt ihr trotzdem ganz gut...
    Meine Frau allein zu Haus
    Meine Olga ist ein mutiger Mensch. Nachdem sie lange in der tschetschenischen Hauptstadt Grosnij gelebt hat, hat sie vor fast nichts Angst. Ihre Eltern haben als Geologen 15 Jahre auf Sachalin nach Öl und Bodenschätzen gesucht. Olga ging dort zur Schule. In der achten Klasse bekam sie, als diejenige mit den besten Noten, eine Belohnung. Sie wurde zu einer Besichtigungstour mit dem Hubschrauber auf die kleine Insel Iturup geflogen. Kurz nach ihrer Ankunft fand dort der berühmte Ausbruch des Vulkans Iturup statt, an dem sie aktiv teilnahm. Das hieß, mit den dort lebenden Fischern zusammen um die Insel herumlaufen und schreien. In der Sachalin-Taiga wurde Olga mehrmals von Bären und anderen wilden Tieren verfolgt. Schon als Kleinkind wusste sie mit dem Gewehr umzugehen. Am Ende der Dienstzeit kauften ihre Eltern sich ein Häuschen am Rande ihrer Heimatstadt Grosnij. Das war kurz vor Beginn des Krieges. Als der tschetschenische Aufstand in der Stadt ausbrach, wurde das Häuschen von den Tschigiten eingekesselt und beschossen.
    Die Eltern verteidigten ihr Eigentum und schossen mit ihren Jagdflinten aus allen Fenstern in die dunkle kaukasische Nacht zurück. Olga musste nachladen. Auch später kämpfte sie mehrmals um ihr Leben. Nun lebt sie seit zehn Jahren schon in der ruhigen Stadt Berlin, aber ihre Sehnsucht nach großen Taten ist noch nicht ganz erloschen.
    Ich war gerade nicht zu Hause, als bei uns plötzlich der Strom ausfiel. Die Versorgungspanne betraf nicht nur unser Haus, sondern den ganzen Prenzlauer Berg. Eine Stunde lang war der Bezirk infolge eines Kurzschlusses ohne Strom. Es war fast wie eine richtige Naturkatastrophe - EC-Karten kamen nicht mehr aus den Geldautomaten heraus, Filmaufführungen
    wurden abgebrochen, Ampeln waren außer Betrieb, und sogar die Straßenbahnen blieben stehen. Meine Frau wusste davon aber nichts. Als es in der Wohnung immer dunkler wurde, entschied sie sich kurzerhand, die Strompanne zu beseitigen. Sie nahm eine Kerze und ging in den Keller an den Sicherungskasten. Vor dem Kasten sah sie einen ausgewachsenen Mann am Boden liegen, der sich nicht bewegte. »Das ist bestimmt der Elektriker«, dachte meine Frau sofort, »der durch die Vernachlässigung der Sicherheitsmaßnahmen den Kurzschluss verursacht hat und dabei ums Leben kam, oder mindestens schwer verletzt wurde.« Sie lief schnell die Treppe hoch, klopfte an alle Wohnungstüren und forderte die Nachbarn lautstark auf, mit ihr den Elektriker nach oben zu tragen. Doch die Nachbarn hatten sich alle in ihren dunklen Wohnungen verkrochen und wollten den toten Elektriker nicht retten. Nur die Vietnamesen aus dem ersten Stock machten auf. Aber mit meiner Frau zusammen in den dunklen Keller zu gehen, dazu waren auch sie zu feige. Daraufhin entschied sie sich, den Elektriker alleine aus dem Keller zu zerren. Sie hatte den Verdacht, dass sein Körper noch unter Strom stehen könnte, deswegen ließ sie sich von den Vietnamesen ein Paar Gummihandschuhe geben. Dann ging
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