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Russendisko

Titel: Russendisko
Autoren: Kaminer,Wladimir
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Einzimmerwohnung im Erdgeschoss erkämpfen. Das Leben im Heim boomte: Die Vietnamesen besprachen auf Vietnamesisch ihre Zukunftschancen, denn damals wussten sie noch nichts vom Zigarettenhandel. Die Afrikaner kochten den ganzen Tag Kuskus, abends sangen sie russische Volkslieder. Sie hatten erstaunlich gute Sprachkenntnisse, viele hatten in Moskau studiert. Die russischen Juden entdeckten das Bier im Sechserpack für DM 4,99, tauschten ihre Autos untereinander und bereiteten sich auf einen langen Winter in Marzahn vor. Viele beschwerten sich beim Aufsichtspersonal, dass ihre Nachbarn falsche Juden seien, dass sie Schweine äßen und am Samstag rund um die Wohnblöcke joggten, was man als echter Jude nie tun dürfte. Damit versuchten sie, ihre Nachbarn loszuwerden und die zugeteilte Stasi-Wohnung für sich allein zu nutzen. Es herrschte ein regelrechter Platzkrieg. Diejenigen, die zu spät gekommen waren, hatten es besonders schwer: Sie mussten ihre Wohnung mit bis zu vier anderen Familien teilen. Wir drei waren vom Leben im Heim nicht sonderlich begeistert und suchten nach einer Alternative. Der Prenzlauer Berg galt damals als Geheimtipp für alle Wohnungssuchenden, dort war der Zauber der Wende noch nicht vorbei. Die Einheimischen
    hauten in Scharen nach Westen ab, ihre Wohnungen waren frei, aber noch mit allen möglichen Sachen voll gestellt. Gleichzeitig kam eine wahre Gegenwelle aus dem Westen in die Gegend: Punks, Ausländer und Anhänger der Kirche der Heiligen Mütter, schräge Typen und Lebenskünstler aller Art. Sie besetzten die Wohnungen, warfen die zurückgelassene Modelleisenbahn auf den Müll, rissen die Tapeten ab und brachen die Wände durch. Die Kommunale Wohnungsverwaltung hatte keinen Überblick mehr. Wir drei liefen von einem Haus zum anderen und schauten durch die Fenster. Andrej wurde glücklicher Besitzer einer Zweizimmerwohnung in der Stargarder Straße, mit Innentoilette und Duschkabine. Mischa fand in der Greifenhagener Straße eine leere Wohnung, zwar ohne Klo und Dusche, aber dafür mit einer RFT-Musikanlage und großen Boxen, was seinen Interessen auch viel mehr entsprach. Ich zog in die Lychener Straße. Herr Palast, dessen Name noch auf dem Türschild stand, hatte es sehr eilig gehabt. Nahezu alles hatte er zurückgelassen: saubere Bettwäsche, ein Thermometer am Fenster, einen kleinen Kühlschrank, sogar Zahnpasta lag noch in der Küche auf dem Tisch. Etwas zu spät möchte ich Herrn Palast für dies alles danken. Besonders dankbar bin ich ihm für den selbst gebauten Durchlauferhitzer, ein wahres Wunder der Technik.
    Zwei Monate später fand die Geschichte der Besetzung des Prenzlauer Bergs ein Ende. Die KWV erwachte aus ihrer Ohnmacht und erklärte alle zu diesem Zeitpunkt in ihren Häusern Lebenden für die rechtlichen Mieter. Sie sollten ordentliche Mietverträge bekommen. Zum ersten Mal stand ich in einer 200-köpfigen Schlange, die ausschließlich aus Punks, Freaks, scheinheiligen Eingeborenen und wilden Ausländern bestand. Laut Mietvertrag musste ich DM 18,50 für meine Wohnung zahlen. So ging mein Traum in Erfüllung: ein eigener Lebensraum - von 25 Quadratmetern.
     
    Mein Vater
     
    Als meine Mutter und ich 1990 Moskau verließen, war mein Vater heilfroh. Damit hatte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen war er stolz, in diesen schwierigen Zeiten seine Familie im sicheren Exil untergebracht zu haben. Es war mit einer gewissen Aufopferung verbunden und alles in allem nicht leicht gewesen. Nicht jeder schaffte es. Zweitens hatte er nach dreißig Jahren Ehe endlich seine Ruhe und konnte nun tun und lassen, was er wollte. Als sein Betrieb, in dem er als Ingenieur tätig war, den Geist aufgab, wie es fast alle Kleinbetriebe im postsowjetischen Frühkapitalismus taten, fand mein Vater schnell eine Lösung. Er fuhr durch die Stadt und entdeckte zwei Tabakläden mit sehr unterschiedlichen Preisen für ein und dieselben Waren. So kaufte er vormittags in dem einen Geschäft ein und verkaufte die Sachen am Nachmittag an das andere. Damit kam er eine Weile über die Runden. Wie ein Kind reagierte er auf alle Neuigkeiten, welche die Marktwirtschaft mit sich brachte, ohne sich darüber groß zu wundern oder zu klagen. Als die Kriminalität immer größere Ausmaße annahm, nagelte er alle Fenster mit Holzplatten zu. Den Korridor verwandelte er in ein Waffenarsenal: Eisenstangen, Messer, Axt und ein Eimer für feindliches Blut standen dort bereit. In der Badewanne
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