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Russendisko

Titel: Russendisko
Autoren: Kaminer,Wladimir
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mehr getrunken. Doch die Freiheit ist nur ein Gast hier. Sie kann sich in Russland nicht lange halten. Sohn, nutze die Chance. Sitz nicht herum und trink Bier. Die größte Freiheit ist die Möglichkeit abzuhauen. Beeil dich, denn wenn die Freiheit wieder verschwunden ist, dann kannst du lange stehen und schreien: O Augenblick, verweile doch, du bist so schön.« Mein Freund Mischa und ich fuhren nach Berlin. Mischas Freundin flog nach Rotterdam, sein Bruder nach Miami und Gorbatschow nach San Francisco. Er kannte jemanden in Amerika. Für uns war Berlin am einfachsten. Man brauchte für die Stadt kein Visum, noch nicht einmal einen Reisepass, weil sie noch nicht zur BRD gehörte. Die Zugfahrkarte kostete nur 96 Rubel, das Reiseziel war nicht weit. Um Geld für das Ticket aufzutreiben, verkaufte ich meinen Walkman und die Kassetten von Screamin' J. Hawkins. Mischa verkaufte seine Plattensammlung.
    Ich hatte nicht viel Gepäck: einen schönen blauen Anzug, den mir ein Pianist vererbt hatte, eine Stange russischer Zigaretten und einige Fotos aus der Armeezeit. Auf dem Moskauer Markt kaufte ich für den Rest des Geldes noch ein paar Souvenirs: eine Matrjoschka, die mit blassem Gesicht in einem kleinen
    Sarg lag - das fand ich lustig, außerdem eine Flasche Wodka der Marke Lebewohl.
    Mischa und ich trafen uns am Bahnhof, er hatte auch nur wenig dabei. Damals waren noch nicht viele Russen als Kleinhändler unterwegs, und der halbe Zug bestand aus solchen Romantikern wie uns, die auf Abenteuer aus waren. Die zwei Tage auf Reisen vergingen wie im Flug. Der Wodka mit dem Lebewohl-Etikett wurde ausgetrunken, die Zigaretten aufgeraucht, und die Matrjoschka verschwand unter mysteriösen Umständen. Als wir am Bahnhof Lichtenberg ausstiegen, brauchten wir erst einmal einige Stunden, um uns in der neuen Umgebung zu orientieren. Ich war verkatert, mein blauer Anzug verknittert und befleckt.
    Mischas Lederweste, die er im Zug beim Kartenspielen von einem Polen gewonnen hatte, brauchte ebenfalls dringend eine Reinigung. Unser Plan war einfach: Leute kennen lernen, Verbindungen schaffen, in Berlin eine Unterkunft finden. Die ersten Berliner, die wir kennen lernten, waren Zigeuner und Vietnamesen. Wir wurden schnell Freunde. Die Vietnamesen nahmen Mischa nach Marzahn mit, wo sie in einem Wohnheim lebten. Dort, mitten im Marzahner Dschungel, zogen sie ihn groß, wie einst Tarzan im Film aufwuchs. Die ersten Worte, die er hier lernte, waren Vietnamesisch. Inzwischen studiert er Multimedia an der Humboldt-Universität und ist jedes Mal beleidigt, wenn ich ihn Tarzan nenne.
    Ich bin damals mit den Zigeunern mitgefahren und landete so in Biesdorf, wo sie in einer ehemaligen Kaserne der ostdeutschen Armee lebten, die in eine Unterkunft des gesamtdeutschen Roten Kreuzes umgewandelt worden war. Am Eingang musste ich meinen Inlands-Pass abgeben. Dafür bekam ich ein Bett und Essen in Folie mit der Aufschrift »Guten Appetit«.
    Die Zigeuner fühlten sich hinter dem Stacheldraht der Kaserne
    sehr wohl. Gleich nach dem Mittagessen zogen sie alle in die Stadt, um ihre Geschäfte zu erledigen. Abends kamen sie mit einem Sack voller Kleingeld und oft auch einem alten Auto zurück. Das Geld im Sack zählten sie nie, sondern gaben es in ihrer Biesdorfer Kneipe ab. Dafür durften sie dort die ganze Nacht lang trinken. Danach stiegen die Stärkeren in den alten Wagen und fuhren ihn gegen einen Baum auf dem großen Hof hinter der Kaserne. Das war der Höhepunkt ihres nächtlichen Vergnügens. Nach zwei Wochen hatte ich das Zigeunerleben satt. Ich entschied mich für ein bürgerliches Leben und zog auf den Prenzlauer Berg, wo ich eine winzige, leer stehende Wohnung mit Außenklo in der Lychener Straße fand, die ich besetzte. Später heiratete ich und mietete eine große Wohnung in der Schönhauser Allee, meine Frau bekam zwei Kinder, ich lernte einen anständigen Beruf und fing an zu schreiben.
    Die erste eigene Wohnung
     
    Seit Ewigkeiten träumte ich von einer eigenen Wohnung. Doch erst mit der Auflösung der DDR ging mein Traum in Erfüllung. Nachdem mein Freund Mischa und ich im Sommer 1990 als eine aus der Sowjetunion geflüchtete Volksminderheit jüdischer Nationalität anerkannt worden waren, landeten wir auf Umwegen in dem riesigen Ausländerheim, das in Marzahn entstand. Hier wurden zunächst Hunderte von Vietnamesen, Afrikaner und Juden aus Russland einquartiert. Wir zwei und noch ein Kumpel aus Murmansk, Andrej, konnten uns eine möblierte
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