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Russendisko

Titel: Russendisko
Autoren: Kaminer,Wladimir
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und ich lebten lange Zeit hinter dem Eisernen Vorhang. Die einzige Verbindung zum westlichen Ausland war die Fernsehsendung »Das Internationale Panorama«, die jeden Sonntag im ersten Programm gleich nach der »Stunde der Landwirtschaft« kam. Der Moderator, ein übergewichtiger und immer etwas gestresster Politologe, war schon seit Jahren in einer wichtigen Mission unterwegs: meinen Eltern und Millionen anderer Eltern den Rest der Welt zu erklären. Jede Woche bemühte er sich, alle Widersprüche des Kapitalismus in vollem Ausmaß auf dem Bildschirm zu zeigen. Doch der Mann war so dick, dass das ganze Ausland hinter ihm kaum zu sehen war. »Dort, hinter dieser Brücke schlafen die hungrigen Arbeitslosen in alten Pappkisten, während da oben auf der Brücke, wie Sie sehen, die Reichen in großen Autos zu ihren Vergnügungsorten fahren!«, berichtete der Dicke zum Beispiel in seiner Sendung »New York - eine Stadt der Kontraste«. Wir starrten wie gebannt auf den Bildschirm: Ganz oben war ein Stück von der Brücke zu sehen und einige Autos, die sie überquerten. Das geheimnisvolle Ausland sah nicht besonders gut aus, unser Mann hatte es dort sicher nicht leicht. Aus irgendeinem Grund wollte der Politologe aber seinen Job trotz des ganzen Elends in der westlichen Welt nicht hinschmeißen und fuhr Jahr für Jahr immer wieder hin. Wenn er gerade mal arme Länder besuchte, lobte er die Werte der Kollektivität und der Solidarität. »Dort, hinter meinem Rücken«, berichtete der Dicke beispielsweise aus Afrika, »greifen die Affen die Menschen an, und die Affen sind unbesiegbar, weil sie zusammenhalten.«
    Unsere Familie hatte noch eine andere halblegale Quelle, aus der die Informationen über das Leben im Ausland zu uns
    flossen: Onkel Andrej aus dem dritten Stock. Er war bei der Gewerkschaft eines geheimen Betriebes eine große Nummer und durfte unbeschwert zu irgendwelchen Geschäftstreffen nach Polen und sogar in die DDR fahren. Das tat er auch mindestens zweimal im Jahr. Ab und zu kam Onkel Andrej mit seiner Frau zu meinen Eltern, immer mit einer Flasche ausländischen Doppelkorns. Sie verbarrikadierten sich in der Küche, und der Nachbar erzählte, wie es im Ausland wirklich war. Die Kinder durften selbstverständlich nicht mithören. Ich war ziemlich gut mit Onkel Andrejs Sohn Igor befreundet, wir gingen in die gleiche Klasse. Igor trug lauter ausländische Sachen: Elf Picot Jeans, braune Turnschuhe, sogar ärmellose T- Shirts, die es bei uns nicht gab. Obwohl Igor der bestangezogene Junge in unserer Klasse war, gab er damit nicht an und war auch nicht geizig. Immer wenn ich ihn besuchte, schenkte er mir irgendeine Kleinigkeit. Bald besaß ich eine ganze Sammlung, die ich als »Geschenke aus der DDR« bezeichnete. Sie bestand aus einigen Bierdeckeln, deren Verwendung und Sinn mir vollkommen unklar war, einer Tüte Gummibärchen, einer leeren Orient Zigarettenschachtel, einer Audiokassette von ORWO, einem »Loley und Biolek«- Kaugummi und einem Abziehbild mit mir unbekannten Comicfiguren drauf. Igor wollte später auch einmal Gewerkschaftsfunktionär werden wie sein Vater. Mein Vater half Onkel Andrej einmal bei der Reparatur seines Wolgas. Dafür bekam er eine angebrochene Flasche Curagao Blue. Die blaue Flüssigkeit hat das damalige Weltbild meines Vaters stark beeinflusst. Nicht, dass er sie getrunken hätte. Doch im blauen Licht der Flasche, die eine ganze Weile auf unserem Bücherregal stand, wurde er immer misstrauischer gegenüber dem Politologen, der das »Internationale Panorama« moderierte. Der Politologe selbst veränderte sich auch, er wurde nachdenklicher und ihm fielen die Worte für die Beschreibung des Auslandes immer schwerer. 1986, unter
    Gorbatschow, verschwand er plötzlich vom Bildschirm. In irgendeinem Land der Kontraste ist er für immer geblieben. Kurz danach fiel der Eiserne Vorhang, alles veränderte sich, der Curagao Blue wurde langsam grau, und das wahre Gesicht der Welt begann sich zu offenbaren.
     
    Vaters Rat
     
    Alle neuen Ideen und alten Weisheiten werden bei uns in Russland als nationales Erbe geschätzt und von Generation zu Generation vererbt.
    Die Idee für meinen Umzug kam von meinem Vater. Es war im Jahr 1990, die Ära von Gorbatschow ging langsam zu Ende, doch er wusste noch nichts davon. Dafür aber mein Vater. An einem sonnigen Tag sagte er bei einem Bierchen: »Die große Freiheit ist wieder in unserem Land. Ihre Ankunft wird gefeiert, es wird viel gesungen und noch
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