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Russendisko

Titel: Russendisko
Autoren: Kaminer,Wladimir
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Unklarheiten. Viele Russen, die schon länger hier leben, können sich noch gut daran erinnern, wie es damals mit dem Eintritt in die Partei war. Der war scheinbar auch ganz einfach: Jeder, der zwei Jahre kandidiert und gut gearbeitet hatte, durfte Mitglied werden. Doch nur die wenigsten sind es geworden. Mein Vater zum Beispiel hatte in der Sowjetunion dreimal versucht, in die Partei einzutreten, immer vergeblich. Jetzt will er in Deutschland eingebürgert werden. Seit acht Jahren lebt er hier, und diesmal will er sich seine Chancen nicht durch Unwissenheit vermasseln. Die schlauen Russen haben auch bereits herausgefunden, was bei der Einbürgerung die entscheidende Rolle spielt: der neue geheimnisvolle Sprachtest für Ausländer, der gerade in Berlin eingeführt wurde. Mit seiner Hilfe will die Staatsmacht beurteilen, wer Deutscher sein darf und wer nicht. Das Dokument wird zwar noch geheim gehalten, doch einige Auszüge davon landeten trotzdem auf den Seiten der größten russischsprachigen Zeitung Berlins. Diese Auszüge schrieb mein Vater sogleich mit der Hand ab, um sie gründlich zu studieren. Denn jedem Kind ist wohl klar, dass es bei dem Sprachtest weniger um die Sprachkenntnisse als solche geht, als um die Lebenseinstellung des zukünftigen deutschen Bürgers. In dem Test werden verschiedene
    Situationen geschildert und dazu Fragen gestellt. Zu jeder
    Frage gibt es drei mögliche Antworten. Daraus wird dann das
    psychologische Profil des Kandidaten erstellt.
    Variante I: Ihr Nachbar lässt immer wieder spätabends laut
    Musik laufen. Sie können nicht schlafen. Besprechen Sie mit
    Ihrem Partner das Problem und überlegen Sie, was man tun
    kann.
    Warum stört Sie die Musik?
    Gibt es noch andere Probleme mit dem Nachbarn? Welche Vorschläge haben Sie, um das Problem zu lösen? Dazu verschiedene Antworten, a, b und c. Unter c steht »Erschlagen Sie den Nachbarn«. Darüber lacht mein Vater nur. So leicht lässt er sich nicht aufs Kreuz legen. Variante II: Der Winterschlussverkauf (Sommerschlussverkauf) hat gerade begonnen. Sie planen zusammen mit Ihrem Partner einen Einkaufsbummel.
    Wann und wo treffen Sie sich? Was wollen Sie kaufen? Warum wollen Sie das kaufen? Mein Vater ist nicht blöd. Er weiß inzwischen genau, was der Deutsche kaufen will und warum.
    Doch die dritte Variante macht ihm große Sorgen, da er den Subtext noch nicht so richtig erkennen kann. Variante III: »Mit vollem Magen gehst du mir nicht ins Wasser, das ist zu gefährlich«, hören Kinder häufig von ihren Eltern. Wer sich gerade den Bauch voll geschlagen hat, sollte seinem Körper keine Hochleistungen abfordern. Angst vor dem Ertrinken, weil ihn die Kräfte verlassen, braucht allerdings keiner zu haben.
    Schwimmen Sie gern? Haben Sie danach Gesundheitsprobleme? Was essen Sie zum Frühstück? Diesen Text reichte mir mein Vater und fragte, was die Deutschen meiner Meinung nach damit gemeint haben
    könnten?. O-o, dachte ich, das ist ja ein richtig kompliziertes Ding. Den ganzen Abend versuchte ich, Variante III zu interpretieren. Danach wandte ich mich an meinen Freund Helmut, der bei uns in der Familie als Experte in Sachen Deutschland gilt. Doch selbst er konnte den Text nicht so richtig deuten. Ich habe bereits so eine Vorahnung, dass mein Vater bei dem Sprachtest durchfallen wird.
    Warum ich immer noch keinen Antrag auf
Einb ü rgerung gestellt habe
    Jede Nacht entstehen bei uns an der Schönhauser Allee, Ecke Bornholmer Straße, neue, immer größere Gruben. Sie werden von Vietnamesen ausgehoben, die diese Ecke als Geschäftsstelle für den Zigarettenverkauf gewählt haben. So vermute ich zumindest, seit ich sie dort wiederholt im Morgengrauen mit Schaufeln in der Hand gesehen habe: zwei Männer und eine sehr nette Frau, die seit Jahren eine geschäftsführende Rolle an dieser Ecke spielt. »Warum graben die Vietnamesen? Beschaffen sie sich neue Lagerräume für ihre Ware?«, überlegte ich auf dem Weg zum Bezirksamt und Herrn Kugler. Es ging wieder einmal darum, die deutsche Einbürgerung zu beantragen, schon zum dritten Mal. Ärgerlich. Das erste Mal lief alles wie am Schnürchen, ich hatte alle Fotokopien dabei, meine wirtschaftlichen Verhältnisse waren geklärt, alle meine Aufenthaltszeiten und -orte seit der Geburt aufgezählt, die DM 500,- Gebühren akzeptiert und sämtliche Kinder, Frauen und Eltern aufgelistet. Zwei Stunden lang unterhielt ich mich mit Herrn Kugler über den Sinn des Lebens in der BRD, doch dann scheiterte
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