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Russendisko

Titel: Russendisko
Autoren: Kaminer,Wladimir
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seine Insel im Atlantischen Ozean mitnimmt. Dort reitet der Engländer den ganzen Tag auf einem weißen Pferd herum und bringt dem Mädchen ständig frische Rosen. Langsam kommen sich die beiden näher. Als es interessant wurde, platzte jedoch der Bodyguard rein und warf Georg und mich aus dem Haus.
    Das M ä dchen mit der Maus im Kopf
    Viele Russen, die sich in den letzten Jahren im Prenzlauer Berg niederließen, kannte ich noch aus Moskau. Die meisten waren bildende Künstler, Musiker oder Dichter: Menschen ohne Entwicklung, die so genannte Zwischenschicht - ewig zwischen Hammer und Sichel, bereits etwas zerlumpt, aber immer noch gut drauf. Abends trafen wir uns oft bei dem einen oder anderen in der Küche und verbrachten die ganze Nacht mit Trinken und Geschichtenerzählen, wie in guten alten Zeiten. Alle hatten viel erlebt und wollten ihre Abenteuer unbedingt jemandem mitteilen. Nur Ilona, ein Mädchen aus Samarkand, erzählte nie etwas. Sie hatte im Saarland Asyl beantragt und pendelte zwischen Saarbrücken und Berlin, wo sie einem reichen Russen den Haushalt führte. Ilona hatte noch eine merkwürdige Angewohnheit: Sie nahm nie ihre Mütze ab. Ihre Haare trug sie ganz kurz, dazu eine hässliche Brille. Eine Frau vom Typ Trockenbrot. Sie kam ständig zu unseren Sitzungen, saß immer in einer Ecke und schwieg. Manchmal stand sie auch mitten im Gespräch auf und ging ins dunkle Nebenzimmer. Doch ihre Eigenheiten fielen nicht weiter auf, weil ohnehin alle am Tisch sich selbst und die anderen für leicht schräg hielten. Trotzdem fragte jeder neue Gast Ilona erst einmal, warum sie nie ihre Mütze abnahm. Sie gab auf diese Frage immer eine plausible Antwort, die keine weiteren Fragen nach sich zog. Irgendwann stellten wir allerdings fest, dass sie jedes Mal etwas anderes erzählte. Dem einen sagte sie, sie hätte einen Autounfall gehabt und am Kopf genäht werden müssen. Dem anderen, dass der Friseur ihr eine fürchterliche Frisur verpasst hätte. Nur der Maler Petrov wollte ihr nicht die Hand geben, solange sie ihre Mütze aufbehielt. Mit dem Mädchen stimme etwas nicht, meinte er. An dem
    Abend lachten wir über seine Intoleranz. Meine Freunde Sergej und Trina, ein Künstlerehepaar, verkauften erfolgreich einige Bilder, und ich kam in einem Theater unter Vertrag: Zum ersten Mal hatten wir etwas Geld übrig. Das wollten wir für einen guten Zweck verwenden und ein paar Tage wegfahren. Nach Amsterdam, wenn das ginge, oder mindestens nach Düsseldorf, wo ein Freund von uns seit mehreren Jahren in der Klapsmühle saß. Sergej und Trina hatten zwei Kinder, Sascha war damals sechs und Nicole drei. Wir kamen auf die Idee, Ilona für drei Tage als Babysitterin anzuheuern und riefen bei dem reichen Russen an, wo sie jobbte. Er hatte nichts dagegen und sie auch nicht. Wir gaben ihr etwas Geld und fuhren los. Die Reise verlief zunächst völlig problemlos, und unserem Freund in Düsseldorf ging es inzwischen auch schon viel besser. Er wurde nicht mehr von Hitlers Kindern verfolgt, und wir nahmen ihn mit nach Amsterdam. Sergej rief unterwegs mehrmals zu Hause an: Niemand meldete sich. Meine Vermutung, dass Ilona gerade mit den Kindern draußen sei, beruhigte die jungen Eltern nicht. Wir fuhren schleunigst zurück. Zu Hause fanden wir eine aufgeräumte Wohnung und lebendige, fröhliche Kinder, nur Ilona war nirgends zu finden. Sergej stellte fest, dass Ilona mit den Kindern das Bett geteilt hatte, obwohl in den anderen Zimmern noch zwei große Sofas standen. »Warum denn das?«, fragten wir Sascha. »Wir hatten Besuch!«, erklärte er stolz. Gleich nachdem wir weg gewesen waren, erzählten die Kinder, waren zehn Männer in zwei Bussen gekommen, alles Freunde von Ilona. Diese wollte ihre Bekannten überraschen und versteckte sich hinter der Gardine. Aber Sascha half den Männern, sie zu finden. Die Gäste trugen schwere Kisten in die Wohnung. Darin befanden sich Spezialwerkzeuge. Mit denen nahmen sie Ilona auseinander und holten dann eine tote weiße Maus aus ihrem Kopf. Danach setzten sie Ilona wieder zusammen, aßen in der Küche und fuhren wieder weg. Das
    alles erzählte uns Sascha. Seine Eltern starrten ihn ungläubig an. Ich sah aus dem Fenster. Im Hof spielte eine Katze mit einer toten Maus. Die Geschichte fing langsam an zu wirken. Sergej rief bei dem reichen Russen an und fragte ihn, ob Ilona bei ihm schon mal die Mütze abgenommen hätte. »Nein, nie.« »Auch nicht beim Schlafen?« »Auch nicht beim Schlafen.« Ob
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