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Rune der Knechtschaft

Titel: Rune der Knechtschaft
Autoren: Ange Guéro
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Sogar im Tod ging noch ein strenger Geruch von ihm aus - nach Exkrementen, nach Hühnerstall, nach Viehhaltung.
    Seine gelblichen Krallen waren scharf, als seien sie spitz zugefeilt worden. Ein zur Jagd abgerichteter Vogel. Er trug einen glänzenden Metallring am linken Bein. Das Symbol des Emirats war darin eingraviert.
    »Gehen wir«, sagte Marikani, den Blick auf den Ring gerichtet.
    Ihr Ton war ruhig, aber ihre Stimme zitterte. Sie war aufgestanden und rieb sich den Unterarm, verteilte dabei aber das Blut nur noch mehr. Die Kratzwunden waren tief; die längste unterhalb ihrer Schulter ging bis auf den Knochen.
    »Das muss gewaschen werden«, sagte der Jugendliche. »Das ist gefährlich, wenn es sich entzündet.«
    Man merkte, dass er ein Junge vom Lande war, der miterlebt hatte, wie Bauern gestorben und ganze Familien ins Abseits geraten waren, nur weil der Vater von einem Fuchs gebissen worden war.
    Die Raben riefen noch immer nicht. Durch das Loch im Dach - der Vogel hatte das lehmverstärkte Stroh zerfetzt, um hindurchzugelangen und sich geradewegs auf Marikani zu stürzen - hörte Arekh, wie sie mit schwerem Flügelschlag davonflogen.

    Er trat auf die Schwelle.
    Der Himmel war mittlerweile dunkelgrün und nebelverhangen. Die Landstraße war jenseits des Nebels verschwunden. Die Soldaten des Trupps, der über den am östlichsten gelegenen Hügel heranrückte, waren in ihren braunen Uniformen im Gestrüpp fast unsichtbar. Sie gingen nicht auf die Scheune zu; wenn sie ihre Richtung beibehielten, würden sie weiter östlich, jenseits eines Wäldchens, daran vorbeiziehen, aber sie konnten jederzeit umkehren.
    Soldaten. Fern der Landstraße, fern von Rez. Sie waren gewiss nicht hier, um Steuern bei den Schäfern einzutreiben.
    Arekh kehrte in die Scheune zurück, sammelte den Proviant ein und begegnete Marikanis Blick. »Schnell!«

KAPITEL 2
    Sie rannten stumm den Hügel hinunter, auf der Seite, die den ankommenden Soldaten abgewandt war. Die Abenddämmerung senkte sich herab, während ihre Füße Ranken und Büsche zertraten. Der Himmel war mittlerweile von einem tiefen Blau, großartig anzusehen, aber von gräulichen Nebelfetzen befleckt. Arekh konnte kaum zehn Meter weit sehen: die anderen Mitglieder der Gruppe, den Boden, den schwarzen Waldrand.
    Stück für Stück wurde der Boden trockener. Die Grasflächen und Sträucher waren dünner gesät, die Erde war heller, mit Kalkstein durchsetzt … zunächst mit Kieseln, dann mit Steinen - langen, glatten weißen Steinen, die ein breites weißes Band auf dem Boden bildeten.
    Es handelte sich nicht um ein zufälliges Naturschauspiel, sondern um Menschenwerk … mehrere tausend Jahre altes Menschenwerk, abgetreten und vergessen. Unter ihren Füßen zog sich in der Tat ein Abschnitt der Westmauer des Alten Kaiserreichs hin, das der Zorn des Gottes, dessen Namen man nicht nennt, vor langer, langer Zeit getroffen hatte, als die Monde noch jung und die Gottheiten hoffnungsvoll gewesen waren.
    Von dieser hohen Befestigungsanlage waren heute nur noch die Grundmauern übrig. Die meisten weißen Steine
waren längst herausgebrochen und verkauft worden, und nur aus dem Grund, weil dieser Platz alles andere als fruchtbar war, hatte sich dieses Zeugnis vergessener Zeiten erhalten können. In den Städten der Königreiche war jedes Fleckchen Erde schon längst bebaut, in den Ebenen jeder Morgen Land landwirtschaftlich genutzt.
    Instinktiv folgten die Flüchtlinge den Spuren der alten Mauer, als sei sie eine Straße, die das Schicksal für sie gepflastert hatte. Am Himmel stieg das Sternzeichen des Rades auf, die sechs glänzenden Götter um den türkisfarbenen Stern, der zum Zeichen der Verdammnis des Türkisvolks erschienen war. Die Rune der Gefangenschaft. Sechs Sterne, sechs Götter, die Kinder der Drei Ersten, die über die Erschaffung der Reiche gewacht hatten, bevor sie sie verdammt hatten.
    O Götter, beschirmt uns unter eurem Mantel und verschleiert unsere Gesichter vor den Augen eurer Feinde …
    Schützt eure Tochter, das Kind des Arrethas …
    Die Worte des Gebets huschten durch Arekhs Geist, eigenartig, geradezu fremd … Es waren Jahre vergangen, seit er sich zuletzt an die Götter gewandt hatte. Und er hatte es rein mechanisch getan, in der Hoffnung, irgendeinen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen. Das war jetzt immer noch der Fall: Das Schicksal der Nachfahrin des Arrethas war Arekh vollkommen gleichgültig. Er war nur neugierig. Die Götter waren überall:
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