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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz
Autoren: Werner Bräunig
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rotweiße Jungenschaftsführerschnur abriß – er hatte dem Fäfü am Vortag in die Fresse geschlagen, weil er beim Großangriff auf die Stadt, in der sie als Luftschutzhelfer eingesetzt waren, einfach getürmt war, hatte das aber vor dem Stammführer nicht beweisen können; ein Vater, der sich nie um ihn gekümmert hatte, ein Typhusbazillus in Griechenland, ein dahergelaufener Stiefvater, der Predigten über Mut und Ehre hielt, vor der Entnazifizierungskommission aber verschwieg, daß er Angehöriger einer Totenkopfdivision gewesen war, ein geschenktes Stück Brot, der Tobsuchtsanfall eines betrunkenen Thüringer Großbauern, ein gestohlener Sack Kartoffeln, ein hochnäsiger Jugendamtsangestellter, der gelassen grinsend ein Urteil schrieb: Verpflichtung in den Erzbergbau. Gesetze, dachte er, es gab nur ein Gesetz: Man mußte sehen, aus jeder Sache das Beste herauszuholen, das war alles. – Und Kleinschmidt? Der sah nicht aus, als ob er auf das Pütt hier angewiesen wäre. Einer mit Abitur, einer mit Büchern im Koffer, einer mit Schönschreiberhänden und solchen richtigen Lederschuhen. Höchstens, er hatte auch etwas ausgefressen. Und Peter fragte: »Sag mal, wie haben sie denn dich hierhergelockt?«
    »Gott«, sagte Christian. Und hob die Schultern, legte ein paar lange Schritte ein, trat eine Papyrossi-Schachtel in den Rinnstein. »Genaugenommen aus lauter Bewußtsein. Ich wollte studieren, da muß man paar Schwielen nachweisen.«
    »Na weißt du«, sagte Loose. Und dann: »Ich bin drüben gewesen, über’n Jahr lang, hab da ’ne Schwester. Weiß der Teufel, warum ich nicht dort geblieben bin. Wenn ich gewußt hätte, daß die einen wegen paar geklauter Kartoffeln gleich in die Taiga verladen!«
    |29| Sie gingen jetzt schneller, und Loose hatte Mühe zu folgen. Sie kamen an der Kirche vorbei, die von Einsturzgefahr bedroht war. Türen und Fenster waren über Kreuz mit Latten vernagelt. Vor dem Anschlagkasten der Pfarrgemeinde stand ein Mädchen. Aber es gab da keine Bibelsprüche zu lesen, sondern Tauschangebote, Dekadenaufrufe, amtliche Bekanntmachungen. Das Mädchen steckte in Gummistiefeln und dieser plumpen Wismut-Kluft. Sie sah herüber, als sie vorbeigingen, sie hatte ein schnippisches, lippenstiftverschmiertes Gesicht unterm bunten Kopftuch und ein bißchen strähniges Wasserstoffhaar. Aber sie drehte gleich wieder ab.
    »Und«, sagte Christian, »wie war’s drüben?«
    »Naja«, sagte Loose. »Ganz lustig. Aber mein Schwager, das ist so ’n Nähmaschinenfritze, bei dem hab ich ’ne Zeitlang gearbeitet. Ich kann dir sagen: beschissen ist geprahlt. Da bin ich denn auf Achse gegangen. Kannste ’ne Menge erleben. Hannover, Celle, Hamburg, Lüneburger Heide, Düsseldorf. Bloß, wenn’s Winter wird, da bist du aufgeschmissen. Da hab ich gedacht, man müßte mal wieder die Landschaft wechseln, ich Ochse.«
    »Ja«, sagte Christian. Und sagte nicht, was das heißen sollte. Ließ bloß später, hundert Meter etwa weiter, verlauten, er habe da auch jemand wohnen, einen Onkel nämlich, am schönen Rhein. Und daß es da Briefe gäbe, von seinem alten Herrn und zurück, und daß er vielleicht hätte studieren können dort. Das verstand Loose natürlich erst recht nicht. Blieb stehen, tippte sich an die Stirn: »Mann!«
    »Ja«, sagte Christian, »das hat mein alter Herr auch gesagt.« Und was sonst noch alles. Aber wenn nun einer seinen Onkel nebst Tante in so salzloser Erinnerung hat? Und wenn es womöglich hinausgelaufen wäre auf ungefähr das, was Loose mit seinem Nähmaschinenschwager erlebt hatte? Und wenn man dann, denn es haben zwei Währungsreformen stattgefunden in den beiden Ländern Deutschlands, so kahl |30| dagestanden hätte und abhängig von denen, nämlich: wo hätte Christian jenes andere Geld hernehmen sollen?
    »Tja«, sagte Peter Loose.
    Es saß vor dem Bermsthaler Bahnhof ein blinder Bettler, der spielte Ziehharmonika. Und es kam einer vorbei, der holte einen Markschein aus der Tasche, faltete ihn, warf ihn – warf ihn aber vorbei an des Bettlers umgestülptem Hut. Da hob der Blinde einen Fuß. Da setzte der Blinde den Fuß auf den Schein, und zwar genau, es ragte aber auch gar nichts über. Und als sie vorbei waren, ließ der Blinde ein paar Baßtöne aus, bückte sich, hatte den Schein in der Tasche.
    »Hm«, sagte Christian, »vielleicht hört er ihn fallen. Ich hab das mal gesehen, die können das, die hören noch ganz andere Sachen.«
    »Bei dem Krach?« sagte Peter Loose. Und dann
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