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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz
Autoren: Werner Bräunig
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Siegfried Müller, siebenundzwanzig Jahre alt, Zimmermann. Ob er einen Türstock setzen könne, fragte er ihn. Müller nickte. »Gut«, sagte Fischer. Er schrieb ihm noch die Reviernummer auf und den Namen des Zimmerbrigadiers. Dann ging er. Er war erstaunt, als der Neue zurückgrüßte: Glück auf.
     
    |26| Peter Loose und Christian Kleinschmidt waren zur Aufnahmebaracke gegangen. Sie fanden sich schnell zurecht im Lager. Unterwegs hatten sie Mehlhorn getroffen, der mit einem Stapel Wolldecken zum Haus vierundzwanzig schlurfte. Sie ließen sich ebenfalls Decken, Laken und Bezüge geben, alles schon ziemlich dünn und verwaschen, gingen in ihre Bude, machten die Feldbetten zurecht. Dann erkundigten sie sich im Nachbarzimmer nach dem Weg zum Schacht 412.
    Der Schacht lag eine Viertelstunde hangabwärts. Es war der älteste der drei Schächte auf dem Rabenberg. Hinter dem Förderschacht türmten sich die Halden in den Himmel, Geröll polterte von der Kippe, manchmal lösten sich schmale Steinlawinen vom Hang, die rauschten unten zwischen die Fichtenstämme. Der Schacht fraß sich immer tiefer in den Wald.
    Gerümpel häufte sich, verrostete Hunte, Karbidfässer. Aus einem Ziegelbau quoll Rohrgewirr. Über dem Hauptförderschacht zitterte die Luft. Der Lärm der Kipper, der Aufzüge und Fördermaschinen flutete in die Täler. Christian sah nun: das Schachtgelände war von einem übermannshohen Bretterzaun umgeben, darauf eine rostige Stacheldrahtgirlande hing. Überall standen Postentürme. Wenn man vom Lager kam, konnte man das ganze Gelände überblicken.
    Sie gingen auf das Rudel kleiner grauer SIS-Omnibusse zu, das vor dem Schachteingang parkte. Der sowjetische Posten in der Durchlaufkabine sagte ihnen, daß sie nur zu den Schichtwechselzeiten eingelassen würden, das nächste Mal um 13.00 Uhr. Sie beriefen sich auf ihre Wismutausweise, die in deutscher und russischer Sprache ausgefertigt waren, aber der Posten brummte sein stereotypes »Nje, nje, nitschewo!« und knallte ihnen die Tür vor der Nase zu.
    Um 14.00 Uhr sollten sie ihre erste Schicht fahren. Christian knüllte den Laufzettel in den Händen. Sie wußten nicht, wie sie in der knappen Stunde, die ihnen bleiben würde, ihre Autogramme zusammenbekommen sollten. Hier hatte anscheinend |27| jeder etwas zu bestimmen, keiner versäumte, seine Unabkömmlichkeit durch eine geschäftig hingekritzelte Unterschrift zu beweisen: Lohnbüro, Lagerverwaltung, Kleidungsmagazin, Werkzeugmagazin, Lampenmagazin, Kartenstelle, Revierleiter, Steiger, Schichtschreiber … Bis 13.00 Uhr waren noch reichlich vier Stunden Zeit.
    Sie beschlossen, ins Dorf zu gehen. Sie stellten sich auf die Straße, hielten einen Erzkipper an, drückten dem Fahrer zwei Zigaretten in die Hand. Der Fahrer nahm sie mit ins Dorf. Bermsthal war ein altes Reihendorf aus der Zeit des Silberbergbaus. Es gab nur wenige Bauern, viele Häusler, Arbeiter der Papierfabrik, der Nickelhütte, des Strickmaschinenwerkes, zwei, drei Morgen Land hinterm Haus. Es gab ein einst berühmtes Rathaus, einen Fachwerkbau aus dem 16. Jahrhundert, daneben ein Mansardenhaus, von dem die Sage berichtete, es sei während der Hungerjahre des großen Silberstreiks um drei Brote verkauft worden.
    Sie gingen die verschlammte Dorfstraße entlang, das Pflaster war aufgerissen, pausenlos dröhnten die Erzkipper durchs Dorf. An den Hangausläufern des Rabenbergs gähnten zehn, zwölf geräumte Häuser, überall warnten Holztafeln und Stacheldrahtzäune: Einsturzgefahr, die Gangstrecken verliefen dicht unter der Erdoberfläche. Viele Häuser waren seit langem nicht getüncht; warum auch, die Kipper spritzten den Dreck ja doch wieder an die Wände, Ziegel klafften, pappvernagelte Fenster, schmutzige Vorgärten. Hin und wieder begegnete ihnen ein Kumpel in der steifen Gummimontur. Eine alte Frau ging unter ein Reisigbündel gebückt vorüber.
    »So ’n Drecknest«, sagte Loose. »So ’n vergammeltes Drecknest!« Sie gingen langsam, die Hände tief in den Hosentaschen. Loose fragte sich, warum um alles in der Welt er hierhergekommen war. Aber war ihm denn etwas anderes übriggeblieben? Quatsch, dachte er, man muß das Leben nehmen, wie es kommt. Er dachte an die salbadernde Stimme |28| des Jugendfürsorgers, der ihm eine Standpauke über die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens gehalten hatte, Gesetze und Regeln, er lächelte verächtlich. Er sah, daß eine Kette von Zufällen sein Leben bestimmt hatte: Ein Fähnleinführer, der ihm die
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