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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht
Autoren: Maggie Stiefvater
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erzählt hatte. Sie ließ sich mir gegenüber auf einen der Plastikstühle fallen; alles an ihr schien wütendwütendwütend zu schreien. Sie war ungeschminkt, bis auf eine dicke Spur verschmierte Wimperntusche um jedes Auge, die so aussah, als wäre sie schon eine ganze Weile da.
    »Wo ist Sam?«
    Ich deutete zum Fenster. Sam war ein dunkler Fleck vor dem immer noch dämmrigen Himmel. Seine Hände waren hinter dem Kopf verschränkt, als er ins Nichts hinausstarrte. Alles andere in diesem Raum hatte sich bewegt, während die Stunden vergingen: die Stühle vor und zurück, als die Krankenhausmitarbeiter mit ihrem Frühstück kamen und wieder gingen, der Hausmeister mit seinem Wischmopp und dem »Achtung, Rutschgefahr« -Schild, das Licht über die orangefarbenen Wände, als langsam die Sonne aufging. Sam war eine Säule, um die sich alles herumbewegte.
    Isabel feuerte eine weitere Frage auf mich ab: »Warum bist du hier?«
    Das wusste ich immer noch nicht. Ich zuckte mit den Schultern. »Um zu helfen.«
    »Dann hilf«, erwiderte Isabel und schob mir die Serviette unter die Nase. Etwas lauter sagte sie dann: »Sam.«
    Er ließ die Hände sinken, aber er drehte sich nicht um. Um ehrlich zu sein, war ich überrascht, dass er sich überhaupt rührte.
    »Sam« ,wiederholte sie und diesmal drehte er sich tatsächlich zu uns um. Sie deutete auf die Selbstbedienungstheke und die Kasse am anderen Ende des Raums. »Hol uns mal Kaffee, ja?«
    Ich wusste nicht, worüber ich verblüffter sein sollte: darüber, dass Isabel ihm gerade befohlen hatte, uns Kaffee zu holen, oder darüber, dass er es tatsächlich machte, wenn auch mit völlig ausdruckslosem Gesicht. Ich sah Isabel an. »Wow. Und ich dachte, frostiger ginge es gar nicht mehr.«
    »Das war nett« ,fuhr sie mich an. »Was hat er denn davon, wenn er bloß rumsteht und nach draußen starrt?«
    »Keine Ahnung, vielleicht ein paar schöne Erinnerungen an all die tollen Tage, die er mit seiner Freundin verbracht hat, bevor sie stirbt?«
    Isabel sah mir direkt in die Augen. »Hilft dir so was in Bezug auf Victor? Mir bringt es nämlich gar nichts, wenn ich an Jack denke.« Sie tippte ungeduldig auf die Serviette. »Rede mit mir. Über das hier.«
    »Ich weiß nicht, was das mit Grace zu tun haben soll.«
    Sam stellte zwei Tassen Kaffee vor uns auf den Tisch, eine für mich und eine für Isabel. Nichts für ihn selbst.
    »Was mit Grace nicht stimmt, ist dasselbe wie das, woran dieser Wolf gestorben ist, den Grace und du gefunden habt«, sagte Sam. Seine Stimme klang kratzig, so als hätte er sie schon eine Weile nicht mehr benutzt. »Der Geruch ist unverkennbar. Es ist genau dasselbe.«
    Er stand neben dem Tisch, als würde er sich dadurch, dass er sich setzte, mit irgendetwas einverstanden erklären.
    Ich sah Isabel an. »Wie kommst du darauf, dass ich etwas kann, was diese Ärzte nicht können?«
    »Weil du ein Genie bist«, sagte Isabel.
    »Die Leute hier sind Genies«, erwiderte ich.
    Sam sagte: »Weil du Bescheid weißt.«
    Isabel schob die Serviette noch näher zu mir. Und wieder saß ich mit meinem Vater am Esszimmertisch und er stellte mir eine Aufgabe. Dann, mit sechzehn Jahren, in einem seiner Collegekurse, während er sich meine schriftlichen Erläuterungen zu meinen Lösungen durchlas und nach Anzeichen dafür suchte, dass ich in seine Fußstapfen treten würde. Dann bei einem seiner Festvorträge mit lauter gebügelten Hemden und altmodischen Krawatten um mich herum, während mein Vater sein Publikum in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, darüber informierte, dass ich mal ganz groß rauskommen würde.
    Ich dachte an diese eine, ganz schlichte Geste von gestern Abend, als Sam seine Hand in Grace’ Nacken gelegt hatte.
    Ich dachte an Victor.
    Ich nahm die Serviette.
    »Ich brauche mehr Papier«, sagte ich.

KAPITEL 51
SAM
    Nie hatte es eine längere Nacht als diese gegeben. Während es schließlich hell wurde, saßen Cole und ich in der Cafeteria, wo wir die Wölfe bis ins kleinste Detail durchsprachen, sein Gehirn damit vollstopften, bis er Isabel und mich schließlich wegschickte, um alleine darüber zu brüten, den Kopf in die Hände gestützt, vor sich ein Blatt Papier. Ich konnte kaum glauben, dass alles, was ich wollte, alles, was ich je gewollt hatte, nun auf den Schultern von Cole St. Clair lastete, der mit einer bekritzelten Serviette an einem Plastiktisch saß. Aber was blieb mir anderes übrig?
    Ich flüchtete aus der Cafeteria, um mich vor
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