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Ruht das Licht

Ruht das Licht

Titel: Ruht das Licht
Autoren: Maggie Stiefvater
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Flügel die Lämpchen wie eine Mondfinsternis verdeckten. Es fühlte sich an, als würden wir uns bewegen, als befänden wir uns auf einem riesigen, schwankenden Boot und sähen hinauf in ein fremdes Firmament.
    Es wurde Zeit.
    Ich schloss die Augen. »Was passiert da mit dir?«
    Grace war so lange still, dass mir schon Zweifel kamen, ob ich die Frage überhaupt laut ausgesprochen hatte. Dann sagte sie: »Ich will nicht einschlafen. Ich habe Angst einzuschlafen.«
    Mein Herzschlag setzte nicht aus, sondern schien sich zu einem Kriechen zu verlangsamen. »Wie fühlt es sich an?«
    »Sprechen tut weh«, flüsterte sie. »Und mein Bauch – es ist wirklich …« Sie legte meine Hand wieder flach auf ihren Bauch und ihre eigene darauf. »Sam, ich hab Angst.«
    Dieses Geständnis tat mir so weh, dass ich beinahe nichts darauf erwidern konnte. Ich sagte leise, denn das war alles, was ich zustande brachte: »Es kommt von den Wölfen. Glaubst du, du hast dich bei diesem Wolf angesteckt?«
    »Ich glaube, es ist ein Wolf«, sagte Grace. »Ich glaube, es ist der Wolf, zu dem ich nie geworden bin. So fühlt es sich an. Es fühlt sich an, als wollte ich mich im nächsten Moment verwandeln, aber es passiert einfach nicht.«
    Mein Verstand kramte rasend schnell alles durch, was ich jemals über die Wölfe oder unsere sagenhaft zerstörerische Krankheit gehört hatte, aber so etwas hatte es noch nie gegeben. Grace war die Einzige ihrer Art.
    »Sag«, redete Grace weiter, »spürst du ihn noch? Den Wolf in dir? Oder ist er jetzt weg?«
    Ich seufzte und lehnte meine Stirn an ihre Wange. Natürlich war er noch da. Natürlich. »Grace, ich fahre dich jetzt ins Krankenhaus. Sie müssen rausfinden, was mit dir nicht stimmt. Ist mir egal, was wir ihnen erzählen müssen, damit sie uns glauben.«
    Grace sagte: »Ich will in keinem Krankenhaus sterben.«
    »Du stirbst nicht«, erwiderte ich und stützte mich auf die Ellbogen, um sie anzusehen. »Ich hab noch nicht alle Songs über dich geschrieben.«
    Einer ihrer Mundwinkel hob sich zu einem Lächeln, dann zog sie mich zu sich herunter, um ihren Kopf an meine Brust zu betten, und schloss die Augen.
    Ich schloss meine nicht. Ich betrachtete sie und die Schatten der Vögel, die über ihr Gesicht huschten und … sehnte mich. Ich sehnte mich nach mehr glücklichen Erinnerungen, die ich an die Decke hängen konnte, so viele glückliche Erinnerungen mit diesem Mädchen, dass das Zimmer dafür nicht ausreichte, sie würden in den Flur hinausflattern, aus dem Haus stieben.
    Eine Stunde später fing Grace an, Blut zu erbrechen.
    Ich konnte nicht den Notruf wählen und ihr gleichzeitig helfen, also ließ ich sie zusammengerollt an der Wand im Flur zurück, eine dünne Spur ihres Bluts markierte den Weg aus meinem Zimmer. Ich stellte mich mit dem Telefon in die Tür, ohne auch nur einmal den Blick von ihr zu wenden.
    Cole – ich konnte mich nicht daran erinnern, nach ihm gerufen zu haben – erschien am oberen Ende der Treppe und brachte schweigend Handtücher.
    »Sam«, sagte Grace, ihre Stimme dünn und elend, »meine Haare.«
    Es gab jetzt nichts Unbedeutenderes als das Blut in ihren Haarspitzen und zugleich gab es nichts Bedeutenderes, weil sie nichts dagegen tun konnte. Während Cole Grace half, sich ein Handtuch vor Mund und Nase zu halten, band ich ihr das Haar umständlich aus dem Gesicht zu einem Pferdeschwanz. Dann, als ich auf der Straße den Rettungswagen hörte, halfen wir ihr auf die Beine und versuchten, sie nach unten zu bringen, ohne dass sie sich wieder übergab. Die Vögel schwirrten und taumelten um uns herum, als wir aus dem Zimmer eilten, als wollten sie mit uns kommen, doch ihre Fäden waren zu kurz.

KAPITEL 47
GRACE
    Es war einmal ein Mädchen namens Grace Brisbane. Sie war nichts Besonderes, außer dass sie gut in Mathe war und eine sehr gute Lügnerin, und sie baute sich ihr Zuhause zwischen den Seiten ihrer Bücher auf. Sie liebte die Wölfe im Wald hinter ihrem Haus, aber einen davon liebte sie ganz besonders.
    Und dieser eine liebte sie auch. Er liebte sie so sehr, dass sogar das, was an ihr nichts Besonderes war, zu etwas Besonderem wurde: wie sie sich beim Nachdenken mit dem Bleistift an die Zähne tippte, ihr schiefer Gesang unter der Dusche, die Art, wie sie ihn küsste und die ihm sagte, dass es für immer sein würde.
    Ihre Erinnerungen setzten sich aus Schnappschüssen zusammen: wie sie von einem Rudel Wölfe durch den Schnee gezerrt wurde, der erste Kuss, der
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