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Ruhe Sanft

Ruhe Sanft

Titel: Ruhe Sanft
Autoren: Annette Meyers
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Unterschied nicht kannte. Wetzon kannte ihn und andere auch, aber alle hatten Angst, es ihm zu sagen.
    Seine Kritik hatte sie verlegen gemacht und gedemütigt. Sie war danach nicht mehr früher gekommen und länger geblieben, sondern hatte nur noch die eigenen Proben absolviert. Ein paar Tage später hatte Hornberg Blumen geschickt und sie eingeladen, sich zu ihm zu setzen, wenn sie nicht gerade ihre Auftritte probte. Sie mußte lächeln, als sie daran dachte. Das war Vorjahren gewesen, und heute war Morty ein Starregisseur. Sie fragte sich, wer jetzt bei ihm saß. Wetzon, du bist ungezogen, dachte sie und schüttelte den Kopf.
    Sie erwischte einen Vierer und setzte sich auf einen der freien Plätze im hinteren Teil. Es war Viertel nach zwölf.
    Sie saß ein paar Minuten still und ließ die Gedanken schweifen, dann zog sie ihre halbgelesene New York Times aus der Einkaufstasche, faltete sie auf und überflog rasch die Nachrichtenspalten. Auf der Seite mit den Nachrufen sah sie eine kleine Notiz, daß Jimmy Bronson, ein Inspizient, den sie von früher kannte, in Kalifornien an einem Herzinfakt gestorben war. Im Alter von vierundsechzig Jahren. Er hatte Vorjahren beim Theater aufgehört und eine erfolgreiche Hauswartungsfirma für die Besitzer von Wochenend- und Sommerhäusern in den Hamptons auf-gemacht. In dem Artikel hieß es, er habe vorgehabt, ein Tourneetheater mit Anatevka zu begleiten. Na ja, allein der Gedanke daran dürfte genügt haben, ihn umzubringen. Es war traurig. Sie fragte sich, was ihn zu dem Versuch veranlaßt haben mochte, in den alten Beruf zurückzukehren. Vielleicht fühlte er sich alt und einsam und wollte wiederfinden, was er an Kameradschaft bei den — mein Gott, warum hatte sie solche morbiden Gedanken?
    Als sie die Zeitung wieder in die Tasche stecken wollte, fiel ihr Blick auf einen anderen Nachruf direkt über Jimmys. Die Überschrift lautete:
    Maxwell Mitosky, 78,
    Volkswirt i. R.
    Der Name ließ sie stutzen. Mitosky... Mitosky. Seltsamer Name, aber sie war sicher, daß sie ihn schon einmal gesehen oder gehört hatte. Sie schloß die Augen und hörte: »Mr. Mitosky, Sir, der Kassierer hat jetzt Zeit für Sie.«
    Sie schlug die Augen auf. Vor Wochen. Der Mann bei Bradley, Elsworth... der mit dem schlimmen Nasenbluten... der mit dem Make-up.
    Sie zog die Zeitung aus der Tasche und las den Nachruf. Mitosky war in London geboren, Examen in Oxford, weitere akademische Grade an der London School of Economics. Emeritierter Professor... New York University. Hatte die letzten dreißig Jahre unter der Adresse 601 East 72. Street gewohnt. Keine Hinterbliebenen.
    Es konnte nicht derselbe Mann sein, weil dieser Mann — falls er überhaupt einen Akzent hatte... Nein, er konnte keinesfalls so einen starken russischen Akzent imitiert haben. Höchst eigenartig.
    Sie packte die Zeitung wieder in die Einkaufstasche, lehnte sich zurück und dachte daran, daß der Russe Maxwell Mitosky aus dem Haus gerannt war, wie es kein achtundsiebzigjähriger Mann fertigbrachte, und seinen Spazierstock in einen Mülleimer geworfen hatte.

Als sie sich kennenlernten, arbeitete Hazel Osborn ehrenamtlich im Museum für amerikanische Volkskunst. Wetzon war damals noch Tänzerin und besserte ihr Einkommen auf, indem sie Kissen aus alten Stoffresten und Steppdecken für den Museumsladen nähte. Eines Tages, als Wetzon vorbeigekommen war, um einen neuen Stapel abzuliefern, hatte Hazel im Laden bedient. Sie waren ins Gespräch gekommen und hatten kein Ende mehr gefunden. Hazel war wie eine Ersatzmutter, die einen verstand, liebte und akzeptierte, wie man war, ohne das übliche psychologische Wechselspiel zwischen Mutter und Tochter.
    »Ich bin Freiwillige von Beruf«, hatte sie sich charakterisiert. Sie verbrachte einen Tag in der Woche im Museumsladen, drei Vormittage als Hilfslehrerin an einer Grundschule in Spanish Harlem und einen Tag bei einer Organisation, die Kinder mit Musik vertraut machte.
    Sie war pensionierte Sozialforscherin, Dr. phil., war auf Kinderpsychologie spezialisiert und hatte in Chicago bei Bruno Bettelheim studiert. »Mein Mentor«, nannte sie ihn ehrfürchtig. Sie war nach New York gekommen, um an der Columbia zu lehren, und hatte in den Jahren vor ihrer Pensionierung bei einem großen sozialen Hilfswerk mit benachteiligten Kindern gearbeitet.
    Kurz bevor sie sich im Volkskunstmuseum kennenlernten, hatte Hazel wegen einer Brustamputation eine Weile kürzertreten müssen, aber sie hatte sich nicht lange
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