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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur
Autoren: Michael Theurillat
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nah.
    Bevor er abermals das Bewusstsein verlor, war sich der Kommissar sicher, dass er sich im Himmel befand. An welchem anderen Ort auf der Welt sprach man sonst Latein? Er war nicht katholisch, also kam der Vatikan nicht in Frage.
    Im Himmel also, dachte Eschenbach. Und womit, bitte, hatte er sich diesen Aufenthalt verdient? Zwanzig Jahre Polizeiarbeit, zwölf davon als Leiter der Kriminalpolizei des Kantons Zürich. Reichte das?
    Gut, er hatte mehr gelöste als ungelöste Fälle vorzuweisen. Auch war er das Gegenteil von korrupt, ein Umstand, den man hier möglicherweise mit Bonuspunkten honorierte.
    Andererseits war er ein notorischer Raucher und Vieltrinker; dazu stur, eigenbrötlerisch und obendrein als Vater und Ehemann nur halbwegs zu gebrauchen.
    Ausgeglichene Rechnung, resümierte Eschenbach. Aber vielleicht haben die hier Rekrutierungsprobleme. Oder es gibt eine Quotenregelung für Polizisten oder Raucher oder beides.
    Als Eschenbach wieder erwachte, stand der Tisch noch immer dort. An demselben Ort wie zuvor. Vor einer weiß getünchten Mauer, in die ein Erker mit einem Fenster eingelassen war. Diffuses Licht drang in den kleinen Raum.
    Am Tisch, kaum drei Meter von ihm entfernt, saß ein Mädchen auf einem Holzhocker. Sie trug Jeans und ein dunkles ­T-Shirt. Der Kommissar betrachtete ihr Profil. Einen Moment lang glaubte er seine Tochter Kathrin zu erkennen: der helle ­Teint, ihre kleine Nase und die kurzen, dunklen Haare.
    Das Mädchen hatte einen Stapel Spielkarten in der Hand, den sie mit flinken Fingern teilte, auffächerte und wieder zusammenschob.
    Es war nicht Kathrin. Seine Tochter konnte mit Spielkarten nicht umgehen. Wenn er mit ihr und seiner Frau Corina einen Jass spielte, musste immer er die Karten mischen.
    Wer war das Mädchen dann?
    Der Kommissar starrte gebannt auf die sitzende Gestalt und sah ihr beim Spielen zu. Wie sie geschickt die Karten jonglier­­te, sie auf den Tisch blätterte und wieder hochhob. Wo war er?
    Er lag in einem Bett auf der Seite. Den rechten Fuß spürte er in der Kniekehle des linken Beins. Oder war es umgekehrt?
    Dumpfe Schmerzen überall. Wenn er die Nackenmuskeln anspannte, um den Kopf zu heben, schlugen Blitze in sein Hirn. Also ließ er es bleiben.
    Unweigerlich dachte Eschenbach an ein Spital. Aber das war es nicht. Der typische Klinikgeruch fehlte. Es roch nach etwas ganz anderem. Nach etwas, an dessen Namen Eschenbach sich partout nicht erinnern konnte.
    Plötzlich musste der Kommissar an Rindsbraten denken, an Barolosauce und mit Kartoffelpüree. Er hatte Hunger.
    Aber der Geruch war ein anderer.
    Das Mädchen am Tisch summte.
    Der Kommissar erkannte die Melodie sofort. Es war Raindrops Keep Falling On My Head aus dem Film Butch Cassidy and Sundance Kid. Er sah Robert Redford und Paul Newman von der Klippe springen und krallte sich am Bett fest.
    Das Summen hörte nicht auf.
    Eschenbach spitzte mühsam die Lippen. Er wollte das Lied pfeifen. Es gibt Melodien, die müssen gepfiffen und nicht gesummt werden. Aber das Geräusch, das er zustande brachte, war jämmerlich.
    »Hey«, sagte das Mädchen. Sie hatte sich Eschenbach zugewandt und sah ihn an. »Wieder wach?«
    Der Kommissar nickte leicht und schluckte.
    Es war definitiv nicht Kathrin.
    Das Mädchen stand langsam auf und kam auf ihn zu. Vier Schritte waren es bis zu seinem Bett. Unus – duo – tres – quattuor. Schlank und zierlich. Das Mädchen war eine junge Frau. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Eschenbach hatte gar nicht erst versucht sich aufzurichten. Für einen Moment hielt er sogar den Atem an.
    Die junge Frau stand nun direkt vor ihm. Der Kommissar musterte sie von den Knien bis zum Bauch. Weiter kam er nicht, ohne den Kopf anzuheben.
    »Kommen Sie«, hörte er die Frau sagen.
    Kann nicht, dachte er.
    »Ich dreh Sie jetzt auf den Rücken.«
    Es war die rauchige Lateinstimme, die er im Himmel schon einmal gehört hatte. Der Kommissar spürte Hände an Schultern und Beinen und wie sie seinen Kopf behutsam anhob und auf ein Kissen bettete. Eschenbach lauschte ihrem Atem und wartete vergeblich auf das Stechen der Messer. Nur ein dumpfes Pochen meldete sich; keine Blitze mehr. Es war auszuhalten.
    Auf dem Rücken liegend, konnte er endlich ihr hübsches Gesicht betrachten.
    »Et voilà!« Sie lächelte kurz. Über ihrem linken Auge machte der Kommissar eine frisch genähte Wunde aus.
    Behutsam setzte sie sich zu ihm aufs Bett. »Es tut mir leid«, sagte sie nach einer Weile.
    »Was
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