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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur
Autoren: Michael Theurillat
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Farm
    Maryborough (Cork)
    Ireland
    Weil der Mönch selbst englischer Abstammung war (schottischer Staatsbürger, wenn man es genau nahm), hatte es ihm keinerlei Mühe bereitet, seinen Brief auf Englisch zu verfassen. Er erzählte von Judiths Ankunft im Kloster im vergangenen November und legte den Schwerpunkt seines Schreibens auf die erfreuliche Tatsache, dass man im Internat der Stiftsschule für sie einen Platz gefunden habe. Bruder John erwähnte mit einem gewissen Stolz, dass er selbst sie auch unterrichtete (Latein, Englisch und Biologie) und dass er eine Art Mentor für Judith gewor­den sei. Eine Broschüre des Internats hatte er seinem Schreiben beigelegt.
    … und natürlich können Sie uns jederzeit hier besuchen. Bei dieser Gelegenheit würde es mich auch freuen, mehr über Judith zu erfahren. Hat sie Verwandte in Irland? Sie erwähnte einmal einen Unfall. Sind ihre Eltern tatsächlich tot?
    Ich hoffe, mein Brief erreicht Sie – denn Ihre Anschrift hat mir doch einiges Kopfzerbrechen bereitet.
    Es war ein Schreiben voller Hoffnung und voller Fragen gewesen. John hatte den Moment noch vor Augen, als er den Brief persönlich zum Postschalter gebracht hatte. Es war ihm wichtig gewesen, dass eine Angestellte der Schweizer Post das Gewicht sowie Adresse und Frankierung noch einmal überprüfte und dass diesbezüglich auch wirklich nichts zu beanstanden war.
    Ebenso erinnerte sich Bruder John an das Unbehagen, das in ihm aufgekommen war, als er gesehen hatte, wie die Frau das Schreiben in hohem Bogen in eine große gelbe Box geworfen hatte, zu Dutzenden von anderen Briefen.
    In Gottes Namen.
    Als er mit leeren Händen den Weg zurück zum Kloster in Angriff genommen hatte, war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass es keinen Schutzheiligen gab, der für die Post zuständig war. Also rief er den heiligen Christophorus an, dessen Bereich immerhin der Verkehr war, und bat ihn, sich dieser Sache gleichermaßen anzunehmen.
    Bruder John stand noch immer vor den Postfächern im Hauptgebäude des Klosters Einsiedeln. Sosehr ihn seine Neugier trieb, er widerstand der Versuchung, den Brief auf der Stelle zu öffnen. Es blieben kaum noch zehn Minuten bis zum Mittagsmahl. Also legte er das ungeöffnete Kuvert zurück in das Fach. Er hatte zu lange auf diesen Moment gewartet – und deshalb wollte er die Nachmittagsstunden dazu verwenden, den Brief in aller Ruhe zu lesen.
    Maryborough, 18 . März
    Lieber John,
    Sie hatten mich gebeten, etwas über Judith zu erzählen. Ich hoffe, sie macht keine Schwierigkeiten; allerdings würde mich dies verwundern. Aber sie ist nicht einfach, das ist sie nie gewesen. Schon als kleines Kind nicht, als ich sie bei mir aufgenommen habe.
    Ihre Eltern sind tatsächlich bei einem Autounfall ums Leben gekommen; Judith war damals vier Jahre alt.
    Ich werde mich bemühen, Ihnen einige Informationen zu geben, die es Ihnen und Ihren Brüdern ermöglichen, Judith besser zu verstehen. Vor allem müssen Sie sie weiter so gut unterrichten – Ihre Schule genießt ja einen exzellenten Ruf; sie ist ein äußerst begabtes Kind.
    Judith ist kein gewöhnliches Mädchen.
    Gewöhnlich kennen Menschen ihre Eltern. Wenigstens ihre Mutter. Kinder brauchen eine Idee, woher sie stammen, eine Blaupause ihrer Herkunft – nur so bekommen sie ein Gefühl für ihre Heimat. Denn die Heimat – sie ist etwas ganz Zentrales in unserem Leben.
    An dieser Stelle würden Sie bestimmt sagen: Unsere Heimat ist Gott. Aber ganz so einfach ist es nicht.
    Judith kann sich an den Unfall nicht erinnern. Das hat sie mir immer wieder gesagt. Und ich habe sie auch nie über die wahren Umstände aufgeklärt, die zu dieser Tragödie geführt haben. Genau genommen ist es ja ein Wunder, dass die Kleine damals überlebt hat.
    Vielleicht hat Ihr Gott die Finger im Spiel gehabt. Aber lassen wir das.
    Als Freund der Familie schien es mir damals das Gescheiteste zu sein, dass ich mich um die Kleine kümmern würde. Wenigstens bis zum Ende der Grundschule. Und meine Haushaltshilfe, die gute Chester, sie hat Judith aufgenommen wie ihr eigenes Kind.
    Die ersten Jahre ging es gut. Für Judith schien es das Normalste auf der Welt zu sein, bei uns auf Annie’s Landmark aufzuwachsen. Sie mochte den alten Esel Jack, die Gänse und den ganzen Kleintierzoo, den wir sonst noch führen.
    Für ein Kind ist es ja wirklich ein Paradies hier.
    Aber ein inzwischen über sechzigjähriger Mann (zudem mit meiner Vergangenheit) und eine irische Haushälterin,
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