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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur
Autoren: Michael Theurillat
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die genauso gut ihre Großmutter hätte sein können – das sind Verhältnisse, die früher oder später zu Fragen Anlass geben. Und wenn man so ist wie Judith, dann müssen Antworten her. Richtige Antworten.
    An ihrem elften Geburtstag hab ich sie erstmalig zum Grab ihrer Eltern mitgenommen, in Upper Castle. Das war ein Fehler. Oder auch nicht – wie man’s nimmt. Ich weiß nicht, was mich damals dazu verleitet hat, sie mit der ganzen Wahrheit zu überfallen. Ich habe mich nachträglich oft gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, ich hätte ihr ein x-beliebiges Grab auf dem Friedhof von Dublin gezeigt. Mit einem ordentlichen Grabstein, auf einem respektablen Friedhof – mit Grabspruch, Jahreszahlen und vollständigen Namen. Herrgott. Und mit einem blühenden Rosenbusch. Vielleicht wäre sie dann zufrieden gewesen. Und passend dazu eine plausible Geschichte (es ist mir nie schwer­gefallen, plausible Geschichten zu erfinden).
    Aber bei Judith wollte ich seltsamerweise gar nicht erst damit anfangen. Kein doubleplay wie sonst immer, sondern Tatsachen. Wenigstens das richtige Grab; das ist das mindeste, dachte ich, auch wenn ich wusste, dass ich ihr nie die ganze Geschichte erzählen würde.
    Leider wirft ein alter, mit Moos überwucherter Felsbrocken im Wald Fragen auf. Schon die Inschrift: Annie & Ch. Stiner – rasten hic inne , ist geradezu eine Einladung. Ich hätte es besser wissen müssen.
    Aber ich konnte ihr nicht sagen, wer ihre Eltern waren.
    Selbstverständlich weiß ich es.
    Ich KONNTE es nicht.
    So begann unser Zerwürfnis, und ein Jahr später, drei Tage nach ihrem zwölften Geburtstag, ist Judith ausgebüxt. Ich habe mich gewundert, wie ein zwölfjähriges Mädchen über ein Jahr lang allein in dieser Welt zurechtkommen kann. Da ich über sehr gute Beziehungen verfüge, wusste ich im Großen und Ganzen, wo sie sich gerade aufhielt. Als ich hörte, dass sie nun bei Ihnen gelandet ist, war ich froh. Über Ihre Schule in Einsiedeln habe ich mich erkundigt. Und dass Judith von mir spricht, rührt mich.
    Ich habe Judith verloren, weil ich sie nicht anlügen konnte. Irgendwie zynisch, nicht wahr? Denn mein Geschäft basierte auf Täuschung. Mein halbes Leben war eine Lüge. Und die Ausnahme mit Judith macht es nicht besser.
    Ein bisschen vielleicht.
    Lasst sie in Freiheit heranwachsen! Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen, lieber John, geben kann. Seid offen und ehrlich zu ihr.
    Denn Judiths Geschäft ist die Wahrheit.
    Herzlichst,
    Ernest
    Der Brief war auf Englisch verfasst und mit der Hand geschrieben. Eine kräftige männliche Handschrift in dunkelblauer Tin­te.
    Bruder John las ihn ein zweites und ein drittes Mal. Er versuchte sich den Menschen vorzustellen, der hinter diesen merkwürdigen Zeilen stand.
    Ein Lügner, der nicht mehr lügen wollte – war er das wirklich?
    Bruder John hatte einmal gelesen, dass Menschen, die ein ganzes Leben lang nur gelogen hatten, gar nicht mehr fähig waren, die Wahrheit zu erkennen. In welcher Welt lebte dieser Mann?
    Der Mönch beschloss, mehr über den Mann herauszufinden. Und was Judith anging, so würde er abwarten. Die Zeit schien ihm nicht reif, sie mit dem Schreiben ihres Ziehvaters zu konfrontieren.

Kapitel 2
    Fünfzehn Jahre später
    A ls Kommissar Eschenbach die Augen aufschlug, sah er einen Tisch. Mensa = der Tisch , dachte er. Das Möbel war einfach gezimmert, mit geraden hölzernen Beinen. Vier Beinen! »Unus … duo … tres … quattuor …« , murmelte er.
    »Quinque, sex, septem …« , zählte jemand anders weiter.
    Der Kommissar blinzelte. Aber er sah niemanden. Er versuchte seinen Kopf zu heben. Es gelang ihm nicht. Stattdessen Stiche im Hirn. Regelrechte Explosionen. Eschenbach stöhnte. Wie ein niedergestrecktes Tier lag er da. Unfähig, die Situation zu erfassen. Erschöpft schloss er die Augen. Der Tisch ver­schwand im Dunkel.
    Mensa obscura.
    »Zählen Sie weiter«, sagte jemand. Die Stimme war ganz nahe an seinem Ohr: ein leises, rauchiges Timbre, das sich anhörte nach Marlene Dietrich im Blauen Engel .
    Eschenbach blinzelte erneut.
    »Kommen Sie schon, Doktor … Zählen Sie: octo – novem – decem … «
    »Octo – novem – decem« , wiederholte Eschenbach schwach. Er war also Doktor. Aber was für ein Doktor?
    »Ja – ja – ja.«
    Es war definitiv eine weibliche Stimme, die ihn begleitete.
    »Gott sei Dank!«, sagte eine Männerstimme von weiter weg.
    »Deo gratias« , flüsterte es wieder ganz
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