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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur
Autoren: Michael Theurillat
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denn?«, murmelte er.
    »Alles das …« Sie machte eine Handbewegung, die seinen ganzen Körper einschloss.
    »Sie?«
    »Mmh …«
    »Wo bin ich?« Eschenbach bemerkte, dass ihm das Sprechen weniger Mühe machte, als er angenommen hatte. Keine Kieferverletzung. Auch die Zähne schienen unversehrt.
    »Sie sind direkt vor den Wagen gerannt …« Für einen kurzen Moment kniff sie die Augen zusammen. »Ich kann den Knall noch immer hören.«
    »Ich höre nichts«, sagte Eschenbach.
    »Sie erinnern sich nicht?«
    »Ich versuche es«, murmelte der Kommissar. Er hatte nicht den Funken einer Idee, was passiert sein könnte. Trotzdem zögerte er. Vielleicht war es geschickter, eine gewisse Ahnung vorzutäuschen. Denn schließlich kannte er diese Frau nicht. Er musste so tun als ob. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
    »Ich hab Sie mitgenommen …«, sagte sie etwas stockend, und es schien, als wäge sie die Worte sorgfältig gegeneinander ab. »Also ich dachte, Sie brauchen dringend Hilfe.«
    Eschenbach schwieg hartnäckig und beobachtete, wie sie verlegen auf ihrer Unterlippe kaute.
    »Ich war wohl bewusstlos«, sagte er.
    Sie nickte.
    »Und einen Arzt …« Eschenbach wollte sich aufrichten.
    »Bleiben Sie.« Ihre Stimme klang nun kräftiger. »Sie dürfen sich nicht bewegen. Vermutlich haben Sie ein Schädel-Hirn-Trauma … das sagt Doktor Kälin. Er war gestern hier und hat Sie untersucht … einfach nur ruhig liegen.«
    »Gestern?« Eschenbach schloss die Augen.
    »Ja, gestern. Er hat Ihnen Schmerzmittel gespritzt … und Seitenlage.«
    »Seitenlage.«
    »Ja, das hat er gesagt. Weil, das ist am besten … wenn Sie sich übergeben müssen.«
    Eschenbach dachte an den Barolobraten.
    »Ist Ihnen schlecht?«
    »Nein«, murmelte er.
    »Das ist gut.« Es klang erleichtert.
    Der Kommissar öffnete die Augen wieder und betrachtete das Gesicht, das er nicht kannte. Es war ein schönes Gesicht, ebenmäßig geschnitten, mit einer zierlichen, makellosen Nase.
    Eschenbach strengte sich an. Aber sosehr er den Dachboden seiner Erinnerungen durchforstete – er fand nichts. Es gab keinen einzigen Anhaltspunkt, der ihm die junge Frau näherbrachte.
    Stattdessen schoss ihm plötzlich Corina durch den Kopf. Seine Frau. Die zweite. Warum war sie nicht hier? Und wie in einem Puppenspiel, wenn sich am Ende alle Figuren nochmals zu einer gemeinsamen Verbeugung versammeln, zogen vor seinem geistigen Auge die vielen vertrauten Gesichter vorbei: Seine Tochter Kathrin grinste ihn schräg an, und Ewald Lenz zupfte sich den Schnurrbart. Claudio Jagmetti, sein früherer Assistent, hob die Sonnenbrille, und Rosa, seine Sekretärin, lächelte ihn an; sogar die Frau vom Tabaklädeli erschien ganz kurz und schob ihm zwei Packungen Brissagos über den Ladentisch. Sie säuselte: »Wie immer, Herr Eschenbach.«
    Natürlich, Eschenbach, dachte er. Wie immer.
    »Und wer sind Sie?«, fragte er die junge Frau.
    Einen Moment stutzte sie, dann huschte ein kurzes Lächeln über ihre Lippen. »Judith«, sagte sie. »Ich bin Judith.«
    »Ich heiße Eschenbach.«
    »Ich weiß«, sagte sie. »Wir arbeiten in derselben Bank.«
    »In einer Bank?« Eschenbachs Stimme war beinahe tonlos. Und mit einem Schlag verschwand die schläfrige Leere in seinem Kopf. Der Kommissar spürte, wie das Blut durch seine Adern pumpte. Er arbeitete nicht in einer Bank; dessen war er sich vollkommen sicher. Es war schlicht nicht möglich. Nicht möglich und nicht logisch. Und plötzlich schossen ihm Gedanken durch den Kopf, und aus den Gedanken wurden Bilder. Er erkannte seine Sekretärin Rosa, festlich in einem dunkelblauen Kaschmirkleid. Sie standen sich gegenüber im großen Sitzungsraum an der Kasernenstrasse: »Schöne Ferien, Kommissario!« Und um sie herum ein Dutzend Kollegen, Rosa hob das Glas –
    Er war in den Ferien! Mit einem Ruck richtete sich Eschenbach auf. Er blinzelte gegen die Welle stechender Schmerzen an. Als es besser wurde und er wieder klar sehen konnte, sagte er leise zu der Frau auf seiner Bettkante: »Sie lügen mich an …« Er starrte in grüne Augen. Seine Stimme wurde noch leiser. »Sie verscheißern mich auf der ganzen Linie.«
    »Nein!« Die Frau, die sich Judith nannte, hielt seinen bohrenden Blicken stand. »Nein – nein – nein!«
    Eschenbach spürte kalten Schweiß auf der Stirn.
    »Legen Sie sich um Gottes willen hin«, sagte sie. Ihre Hand umfasste seinen Nacken.
    Langsam sank der Kommissar zurück ins Kissen.
    »Ich bin die
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