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Rousseau's Bekenntnisse

Rousseau's Bekenntnisse

Titel: Rousseau's Bekenntnisse
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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vortrefflichen Mädchens ließ weder in ihr noch in meiner Umgebung je ein träumerisches Sinnen oder trübe Gedanken aufkommen. Der Reiz, der in dem Gesange meiner Tante für mich lag, war so gewaltig, daß mir nicht allein mehrere ihrer Lieder stets im Gedächtnis geblieben sind, sondern daß mir sogar jetzt, wo ich es fast ganz verloren habe, je älter ich werde, immer wieder andere, die ich seit meiner Kindheit völlig vergessen hatte, erinnerlich werden und einen unbeschreiblichen Zauber auf mich ausüben. Sollte man es glauben, daß ich alter Knabe, von Sorgen und Mühen aufgerieben, mich bisweilen dabei ertappe, wie mir, als ob ich ein Kind wäre, die Thränen in die Augen treten, wenn ich eines dieser Liedchen mit schwacher und zitternder Stimme vor mich hinsinge? Namentlich befindet sich eines darunter, dessen Melodie mir vollkommen wieder eingefallen ist; dagegen kann ich mich, so viel Mühe ich mir auch gegeben habe, auf die zweite Hälfte der Worte nicht mehr besinnen, obgleich ich mich der Endreime dunkel erinnere. Der Anfang und das Wenige, was ich noch behalten habe, lautet:
Tircis, je n'ose
Ecouter ton chalumeau
Sous l'ormeau;
Car on en cause
Déjà dans notre hameau.
- - - - - - - - -
- - - - un berger
- - - - s'engager
- - - - sans danger
Et toujours l'épine est sous la rose.
     
    [Fußnote: Tircis, unter der Rüster
Hör' ich nicht länger die Melodei
Deiner Schalmei,
Schon geht ein Geflüster
Im Dorf von unserer Liebelei.

Dieses in Paris unter der Arbeiterklasse allgemein bekannte Lied, heißt eigentlich:

Tircis, je n'ose
Ecouter ton chalumeau
Sous l'ormeau;
Car on en cause
Déjà dans notre hameau.
Un cœur s'expose
A trop s'engager
Avec un berger,
Et toujours l'épine est sous la rose. ]
    Umsonst frage ich mich, worin eigentlich der rührende Reiz liegt, den mein Herz bei diesem Liede empfindet. Es ist eine Seltsamkeit, die ich mir nicht zu erklären vermag, allein es ist mir vollkommen unmöglich, es bis zu Ende zu singen, ohne von meinen Thränen unterbrochen zu werden. Hundertmal habe ich mir vorgenommen, nach Paris zu schreiben, um mich nach dem Reste der Worte erkundigen zu lassen, falls sie dort noch irgend jemand kennen sollte. Aber ich bin fast sicher, daß das Vergnügen, welches mir die Rückerinnerung an dieses Lied gewährt, zum Theil verschwinden würde, wenn ich den Beweis in Händen hätte, daß es auch andere als meine arme Tante Susanne gesungen haben.
    So waren meine ersten Gefühle bei meinem Eintritt in das Leben; so begann sich in mir jenes so stolze und doch auch wieder so zärtliche Herz zu bilden oder zu zeigen, jener weichliche, aber doch unzähmbare Charakter, der, beständig zwischen Schwäche und Muth, Weichlichkeit und Kraft schwankend, mich bis zu diesem Augenblick in Widerspruch mit mir selbst gesetzt hat und die Ursache ist, daß ich mir Enthaltsamkeit und Genuß, Vergnügen und Mäßigung gleich wenig nachsagen kann.
    Diese Erziehungsweise wurde durch ein Ereignis unterbrochen, dessen Folgen auf mein ganzes übriges Leben voll Einfluß waren. Mein Vater hatte mit einem Herrn Gautier, Hauptmann in französischen Diensten und fast mit dem ganzen Rathe verschwägert, eine Rauferei. Dieser Gautier, ein frecher und ehrloser Mensch, hatte aus ihr eine blutige Nase davon getragen, und um sich zu rächen, klagte er meinen Vater an, auf städtischem Gebiete den Degen gezogen zu haben. Mein Vater, den man gefänglich einziehen wollte, verlangte, daß man den Ankläger nach dem Gesetze eben so gut wie ihn in das Gefängnis führte. Da er dies nicht durchzusetzen vermochte, verließ er lieber Genf und wohnte während seiner übrigen Lebenszeit außerhalb seines Vaterlandes, als daß er in einem Punkte nachgab, bei dem ihm Ehre und Freiheit gefährdet schienen.
    Ich blieb unter dem Schutze meines Onkels Bernhard, der damals bei den Festungsbauten von Genf Anstellung gefunden hatte, zurück. Seine älteste Tochter war todt, aber er hatte einen Sohn von meinem Alter. Wir wurden beide bei dem Pfarrer Lambercier in Vassey in Kost gegeben, um dort neben dem Latein all jenen nichtssagenden Kram zu lernen, ohne den man sich eine richtige Erziehung gar nicht denken zu können scheint.
    Zwei auf dem Lande verlebte Jahre nahmen mir etwas von meiner römischen Schroffheit und verliehen mir wieder Kindlichkeit. In Genf, wo man mir nichts aufgab, arbeitete und las ich gern, und hatte daran fast meine einzige Freude; in Vassey flößten mir die vielen Arbeiten Lust zum Spielen ein,
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