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Rousseau's Bekenntnisse

Rousseau's Bekenntnisse

Titel: Rousseau's Bekenntnisse
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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Vaters. Bei der grenzenlosen Liebe, die man für mich hegte, wurde er ein wenig vernachlässigt, und ich kann das keineswegs billigen. In seiner Erziehung machten sich die Nachwehen dieser Vernachlässigung bemerkbar. Er zeigte vor der Zeit einen Hang zu einem ausschweifenden Leben. Man gab ihn bei einem andern Meister in die Lehre, bei dem er nicht weniger muthwillige Streiche verübte, als im väterlichen Hause. Ich sah ihn fast nie, ich kann kaum sagen, ihn gekannt zu haben, aber trotzdem liebte ich ihn zärtlich, und er erwiderte meine Liebe, so viel ein Gassenbube etwas lieben kann. Ich erinnere mich, daß ich mich einmal, als ihn mein Vater derb und im Zorne züchtigte, ungestüm zwischen beide warf und ihn fest in meine Arme schloß. Auf diese Weise schützte ich ihn mit meinem Leibe, indem ich die ihm zugedachten Schläge erhielt, und ich blieb so hartnäckig in dieser Stellung, daß mein Vater endlich Gnade vor Recht ergehen ließ, sei es nun durch mein Geschrei und meine Thränen entwaffnet, oder um mich nicht mehr zu mißhandeln als ihn. Endlich gerieth mein Bruder auf so traurige Abwege, daß er plötzlich davon lief und verschwand. Einige Zeit nachher erfuhr man, daß er sich in Deutschland befände. Er schrieb nicht ein einziges Mal. Seit jener Zeit hat man nichts von ihm gehört, und so bin ich der einzige Sohn geblieben.
    Ließ bei diesem armen Knaben die Erziehung viel zu wünschen übrig, so war dies bei seinem Bruder nicht der Fall. Kindern von Königen hätte keine größere Sorgfalt bewiesen werden können, als ich mich deren in meinen ersten Jahren zu erfreuen hatte, – angebetet von meiner ganzen Umgebung, und was viel seltener ist, als ein geliebtes, aber nicht als ein verzogenes Kind behandelt. Auch nicht ein einziges Mal bis zu meinem Austritt aus dem väterlichen Hause hat man mich mit den andern Kindern allein auf der Straße umherlaufen lassen; niemals hatte man in mir einen jener launischen Einfälle zu unterdrücken oder zu befriedigen, welche man dem Charakter zuschreibt, während sie doch lediglich eine Folge der Erziehung sind. Ich hatte die Fehler meines Alters: ich plauderte gern, aß viel, log auch bisweilen. Ich wäre im Stande gewesen Obst, Bonbons, Eßwaaren zu stehlen; aber nie habe ich Freude daran gefunden, Jemandem ein Leid zuzufügen, Schaden anzurichten, andere zu beschuldigen oder arme Thiere zu quälen. Ich erinnere mich jedoch, einmal den Topf einer unserer Nachbarinnen, einer Frau Clot, während sie dem Gottesdienste beiwohnte, verunreinigt zu haben. Ich bekenne sogar, daß ich bei dieser Erinnerung noch immer lachen muß, weil Frau Clot, im Uebrigen eine ganz gute Frau, die brummigste Alte war, die ich in meinem ganzen Leben gekannt habe. Das ist die kurze und wahrhafte Geschichte aller meiner kindlichen Uebelthaten.
    Wie hätte ich schlecht werden können, wenn ich nur Beispiele von Sanftmuth vor Augen und die besten Menschen von der Welt um mich hatte? Mein Vater, meine Tante, meine Wärterin, meine Verwandten, unsere Freunde, unsere Nachbarn, kurz meine ganze Umgebung, gehorchte mir zwar, liebte mich aber, und ich liebte sie wieder. Mir wurde so wenig Gelegenheit gegeben, auf meinem Willen zu bestehen, und ich fand so wenig Widerspruch, daß es mir gar nicht in den Sinn kommen konnte, Eigenwillen zu zeigen. Ich kann beschwören, daß ich, bis ich mich unter den Willen eines Meisters beugen mußte, nicht gewußt habe, was eigensinnige Launen sind. Außer der Zeit, die ich bei meinem Vater mit Lesen oder Schreiben zubrachte, und derjenigen, in welcher mich meine Wärterin spazieren führte, war ich beständig bei meiner Tante und saß oder stand neben ihr, um zuzusehen, wie sie stickte, oder ihrem Gesange zu lauschen, und das genügte mir bei meiner Anspruchslosigkeit. Ihr Frohsinn, ihre Sanftmuth, ihr anmuthiges Gesicht haben mir so lebhafte Eindrücke hinterlassen, daß ich noch immer ihre Mienen, ihren Blick, ihre Haltung vor mir sehe; ich entsinne mich ihrer Schmeichelworte, ich vermöchte noch ihre Kleidung und Frisur zu beschreiben, ohne die beiden Locken zu vergessen, welche ihr schwarzes Haar an den Schläfen bildete, wie es die damalige Mode verlangte.
    Ich bin überzeugt, daß ich ihr den Geschmack oder vielmehr die Leidenschaft für die Musik verdanke, die sich erst viel später in mir entwickelt hat. Sie wußte eine erstaunliche Menge Melodien und Lieder, die sie mit schwacher, aber sehr wohlklingender Stimme sang. Die Seelenheiterkeit dieses
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