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Rousseau's Bekenntnisse

Rousseau's Bekenntnisse

Titel: Rousseau's Bekenntnisse
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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mich nicht, was ich bis zu einem Alter von fünf oder sechs Jahren that. Ich weiß nicht, wie ich lesen lernte; ich entsinne mich nur noch meiner ersten Lectüre und wie sie auf mich wirkte; von dieser Zeit an beginnt mein ununterbrochenes Selbstbewußtsein. Meine Mutter hatte Romane hinterlassen. Wir, mein Vater und ich, fingen an, sie nach dem Abendessen zu lesen. Zuerst handelte es sich nur darum, mich durch unterhaltende Bücher im Lesen zu üben; aber bald wurde das Interesse so lebhaft, daß wir abwechselnd unaufhörlich lasen und selbst die Nächte bei dieser Beschäftigung zubrachten. Wir konnten uns nicht überwinden, vor Beendigung eines Bandes aufzuhören. Mitunter sagte mein Vater, wenn er gegen Morgen die Schwalben schon zwitschern hörte, ganz beschämt: »Laß uns zu Bette gehen, ich bin noch mehr Kind als du.«
    Auf diesem gefährlichen Wege eignete ich mir nicht allein in kurzer Zeit eine außerordentliche Gewandtheit im Lesen und Auffassen an, sondern auch ein für mein Alter ungewöhnliches Verständnis der Leidenschaften. Während es mir noch an jedem Begriffe von den wirklichen Verhältnissen fehlte, hatte ich bereits einen Einblick in die Welt der Gefühle gewonnen. Ich hatte nichts begriffen, aber alles gefühlt. [Fußnote: Var ... alles gefühlt, und die eingebildeten Leiden meiner Helden haben mir in meiner Jugend hundertmal mehr Thränen entlockt, als ich später über meine eigenen vergossen habe.] Die unklaren Vorstellungen, die ich nach einander in mich aufnahm, konnten der Vernunft, die ich noch nicht hatte, zwar nicht schädlich sein, aber sie waren doch die Ursache, daß die meinige ganz eigenartig wurde, und brachten mir über das menschliche Leben höchst wunderliche und schwärmerische Begriffe bei, von denen mich Erfahrung und Nachdenken nie haben vollkommen heilen können.

1719 – 1723
    Die Romane hatten wir bis zum Sommer 1719 ausgelesen. Der folgende Winter verschaffte uns Abwechselung. Da uns die Bibliothek meiner Mutter nicht mehr Neues bot, nahmen wir zu den Büchern unsere Zuflucht, die uns aus der Erbschaft ihres Vaters zugefallen waren. Glücklicherweise befanden sich darunter gute Bücher, und das ist leicht erklärlich, da sie zwar von einem Geistlichen, und noch dazu einem gelehrten, worauf man damals großes Gewicht legte, aber doch einem Manne von Geschmack und Geist angeschafft worden waren. Die Geschichte der Kirche und des deutschen Kaiserreichs von Le Sueur, Bossuets Vorlesungen über die allgemeine Weltgeschichte, Plutarchs Lebensbeschreibungen berühmter Männer, die Geschichte Venedigs von Nani, Ovids Verwandlungen, La Bruyère, die Himmelskörper von Fontenelle, seine Todtengespräche, sowie einige Bände von Molière wurden in das Arbeitszimmer meines Vaters hinübergebracht und täglich las ich ihm, während er sich seiner Beschäftigung hingab, daraus vor. Ich fand eine eigenthümliche und in diesem Alter vielleicht nie wieder vorkommende Freude daran. Besonders wurde Plutarch meine Lieblingslectüre. Der Genuß, mit dem ich ihn immer und immer wieder las, heilte mich ein wenig von den Romanen, und bald zog ich Agesilaos, Brutus und Aristides dem Orondates, Artamenes und Juba vor. Durch diese fesselnde Lectüre und die Gespräche, welche sie zwischen meinem Vater und mir hervorriefen, entwickelte sich in mir jener freie und republikanische Geist, jener unzähmbare und stolze Charakter, der, unfähig Unterjochung und Knechtschaft zu ertragen oder mit anzusehen, mich mein Lebenlang gefoltert hat, und noch dazu zumeist in Verhältnissen, die am wenigsten danach angethan waren, ihm Erfolg zu versprechen. Unaufhörlich mit Rom und Athen beschäftigt, gleichsam im steten Verkehre mit den großen Männern derselben lebend, selbst geborener Bürger einer Republik und Sohn eines Vaters, dessen stärkste Leidenschaft die Vaterlandsliebe war, entflammte mich sein Beispiel; ich hielt mich für einen Griechen oder Römer; ich versetzte mich in die Lage der Person, deren Lebensbeschreibung ich las; bei der Erzählung der Züge von Ausdauer und Unerschrockenheit, die mich ergriffen hatten, leuchteten meine Augen auf und wurde meine Stimme kräftiger. Als ich eines Tages die bekannte Geschichte von Scävola erzählte, erschraken alle Anwesende, als sie sahen, wie ich mit einem Male aufsprang und die Hand über ein Kohlenbecken hielt, um ihnen seine That zu veranschaulichen.
    Ich hatte einen Bruder, der sieben Jahre älter war als ich. Er lernte das Geschäft meines
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