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Rotlichtkrieg: Auf Leben und Tod gegen die Hells Angels (German Edition)

Rotlichtkrieg: Auf Leben und Tod gegen die Hells Angels (German Edition)

Titel: Rotlichtkrieg: Auf Leben und Tod gegen die Hells Angels (German Edition)
Autoren: Gianni Sander , Marc-André Rüssau
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Wenn ich das mitbekam, und das ließ sich kaum vermeiden, so oft, wie sie mit einem Typen in der Strandumkleide verschwand, wisperte sie mir zu: »Sag Papa nichts davon.«
    Ihre Angst war nachvollziehbar. Denn mein Stiefvater erzog uns mit strenger Hand. Er prügelte mit dem Gürtel oder dem Rohrstock auf uns ein. Mein Stiefbruder war zu früh auf die Welt gekommen und eines seiner Beine war kürzer als das andere. Doch meine Eltern ließen ihn, wenn sie ihn bestrafen wollten, stundenlang in der Ecke stehen, auch wenn sein kaputtes Bein innerhalb kürzester Zeit furchtbar schmerzte.
    Meine Mutter erzog mit Demütigungen. Mein Stiefbruder machte beispielsweise lange Zeit in die Hose. Sie hingen die schmutzigen Unterhosen über sein Bett, damit jeder sehen konnte, was für ein Schwein er war.
    Als kleines Kind musste ich zum Psychologen, weil ich mich unter dem Tisch versteckte und gar nicht mehr herauswollte. Aber was hätte ich dem Psychologen erzählen sollen? Von meiner psychopathischen Mutter, meinem brutalen Stiefvater?
    Außerdem: Mein Verhalten war in Anbetracht des ganzen Wahnsinns bei uns zu Hause völlig logisch und normal. Ich versteckte mich, weil ich einfach meine Ruhe haben wollte.

    Ich sollte dann statt auf eine normale weiterführende Schule auf ein Internat gehen. Ein katholisches Jungeninternat. Das gehörte zum guten Ton in den besseren Familien, bei meinen Stiefgeschwistern hatte es mein Stiefvater auch so gemacht. Für meine Mutter hatte das den angenehmen Nebeneffekt, dass sie sich mit meinem Stiefvater in der Weltgeschichte herumtreiben konnte und sich nicht mehr um mich kümmern musste.
    Die Priester verfolgten ein jahrhundertealtes pädagogisches Konzept: den Willen der Kinder brechen. Ich fand mich also in ähnlichen Zuständen wie zu Hause wieder. Nur dass ich jetzt die Schuluniform – blaues Hemd, dunkle Strickjacke und Krawatte – tragen musste. Die Erzieherinnen schlugen uns. Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, wenn sie mir mit der Faust eine Kopfnuss gaben. Sie trugen Ringe, die sich in die Kopfhaut bohrten.
    In einem Schlafsaal waren zehn Kinder untergebracht. Um 7 Uhr mussten wir aufstehen, 7.15 Uhr waschen, 7.30 Uhr Frühstück. Dann Schulunterricht, Gebete, alles straff organisiert.
    Die älteren Jugendlichen hatten ihren Spaß daran, uns jüngere zu drangsalieren. Ich erinnere mich an Tim, ein fettes, blondes, 14-jähriges Schwein, der die neun- bis zehnjährigen Jungs zwang, mit ihm Strip-Poker zu spielen und sein erigiertes Glied anzufassen.

    Während der Zeit im Internat habe ich zwei grundlegende Erfahrungen gemacht. Erstens habe ich eine strenge Erziehung genossen, der ich Disziplin und gute Manieren verdanke. Und zweitens lernte ich das Gefühl kennen, keine Freiheit zu haben. Nur ein paar Mal in meinem Leben war ich wieder so unfrei wie zu dieser Zeit: die Male, die ich in Untersuchungshaft saß.
    Das beherrschende Gefühl meiner Jugend war daher auch der Wunsch, frei zu sein. Nicht mehr Opfer der Spielchen meiner Mutter, der Brutalität meines Stiefvaters, der Überheblichkeit meiner Geschwister, der Erniedrigung durch andere Menschen ausgeliefert zu sein.
    Ich begann mit Bodybuilding und Kampfsport. An den Wochenenden und in den Freistunden verschwand ich in ein heruntergekommenes Fitnessstudio in einem Hinterhof, in das fast nur Männer aus dem Milieu gingen. Dort trainierte ich wie ein Besessener. Bei meinen Eltern stieß das natürlich auf wenig Gegenliebe. Tennis, Golf – das waren Sportarten, über die sich reden ließ. Aber Bodybuilding war immer etwas für Asoziale.
    Doch als ich 17 Jahre alt war, konnte ich 113 Kilogramm Muskeln aufweisen. Und plötzlich hatten alle Respekt vor mir.

    Ich habe euch nicht von meiner Kindheit und Jugend erzählt, weil ich damit irgendetwas rechtfertigen möchte. So schwach bin ich nicht. Ich habe meine Entscheidungen getroffen, weil ich sie für richtig halte. Mir hat kein Anwalt gesagt: »Erzähl mal von deiner schweren Jugend, dann gibt es mildernde Umstände.«
    Ich hatte immer genug zu essen. Punkt. Was kann man mehr verlangen? Wenn alle Scheidungskinder Zuhälter würden, dann müssten sich drei Zuhälter eine Nutte teilen. Wenn sich alle Männer, deren Mutter überfordert war, Waffen besorgen würden, hätten wir in Deutschland Verhältnisse wie in amerikanischen Gettos. Und wenn alle Kinder aus dem Internat ins Rockermilieu gehen würden, gäbe es sicher ein paar Motorradclubs mehr.
    Die Entscheidung, wie ich
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