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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen
Autoren: Jo Nesbø
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Der Gewehrlauf sah aus wie der Lauf einer Uzi. Die raue Morgenluft brannte in den Lungen.
    »Polizei!«, schrie Harry. »Police!«
    Keine Reaktion, das dicke Glas sollte den Verkehrslärm von draußen abhalten. Der Mann hatte seinen Kopf jetzt in Richtung Kolonne gedreht und Harry konnte die dunkle Ray-Ban-Sonnenbrille erkennen. Secret Service. Oder jemand, der wie einer vom Secret Service aussehen wollte.
    Noch zwanzig Meter.
    Wie war er in das verschlossene Häuschen gekommen, wenn er keiner von denen war? Verdammt! Harry konnte bereits die Motorräder hören. Er würde das Häuschen nicht mehr erreichen.
    Er entsicherte die Waffe und hoffte, die Hupe des Autos möge die morgendliche Stille an diesem Ort auf der gesperrten Autobahn zerreißen, an den er nie, wirklich niemals gewollt hatte. Der Befehl war klar, doch er konnte den Gedanken einfach nicht von sich weisen: leichte Weste, keine Kommunikation. Schieß, es ist nicht dein Fehler. Ob er Familie hat?
    Unmittelbar hinter dem Kassenhäuschen kam jetzt die Kolonne zum Vorschein, und das schnell. In zwei Sekunden würde der Cadillac in Höhe der Mautstation sein. Aus dem linken Augenwinkel sah er eine Bewegung – ein kleiner Vogel, der vom Dach aufflog.
    Das Wagnis eingehen oder nicht… dieses ewige Dilemma.
    Er dachte an den tiefen Halsausschnitt der Weste und senkte den Revolver ein klein wenig. Das Dröhnen der Motorräder war ohrenbetäubend.
     
    Oslo, Dienstag, 5. Oktober 1999
     
    2 »Genau das ist ja der große Betrug«, sagte der kahl geschorene Mann und warf einen Blick auf das Manuskript. Der Kopf, die Augenbrauen, die kräftigen Unterarme, ja sogar seine gewaltigen Hände, die das Rednerpult umklammerten, waren frisch rasiert und sauber. Er beugte sich zum Mikrofon vor.
    »Seit 1945 haben die Feinde des Nationalsozialismus das Feld beherrscht und ihre demokratischen und ökonomischen Prinzipien ausgeübt. Als Folge davon hat die Welt seither nicht einen einzigen Sonnenuntergang ohne kriegerische Auseinandersetzungen gesehen. Selbst hier in Europa haben wir Krieg und Völkermord miterleben müssen. In der Dritten Welt hungern und sterben Millionen – und Europa wird von Massenzuwanderung und dem damit verbundenen Chaos bedroht, von der Not und dem Kampf ums Dasein.«
    Er hielt inne und sah sich um. Es war mucksmäuschenstill im Saal, nur einer der Zuhörer in den Reihen hinter ihm klatschte leiseBeifall. Als er erregt fortfuhr, leuchtete die kleine Lampe unter dem Mikrofon verräterisch auf – der Kassettenrecorder empfing verzerrte Signale.
    »Nur wenig trennt auch uns von unbekümmertem Reichtum und dem Tag, an dem wir uns auf uns selbst und auf die Gesellschaft um uns herum verlassen müssen. Ein Krieg, eine ökonomische oder ökologische Katastrophe – und das gesamte Netzwerk aus Regeln und Gesetzen, das uns alle so schnell zu passiven Nutznießern des Sozialstaates werden lässt, ist plötzlich verschwunden. Der letzte große Betrug fand am 9. April 1940 statt, als unsere so genannten nationalen Führungspersonen vor dem Feind davonrannten, um ihre eigene Haut zu retten. Und die staatlichen Goldreserven mitnahmen, um in London ein Leben in Luxus zu finanzieren. Jetzt ist der Feind wieder hier. Und diejenigen, die unsere Interessen verteidigen sollten, betrügen uns erneut. Sie lassen den Feind Moscheen in unserer Mitte errichten, erlauben es ihm, die Alten auszurauben und sein Blut mit dem unserer Frauen zu mischen. Es ist ganz einfach unsere Pflicht, unsere Rasse der Nordmänner zu schützen und diejenigen zu eliminieren, die uns betrügen wollen.«
    Er blätterte zur nächsten Seite um, doch ein Räuspern vom Podium vor ihm ließ ihn innehalten und aufblicken.
    »Danke, ich glaube, wir haben genug gehört«, sagte der Richter und sah über seine Brille. »Hat die Staatsanwaltschaft noch weitere Fragen an den Angeklagten?«
    Die Sonne schien schräg in den Saal Nummer 17 des Osloer Justizgebäudes und verschaffte dem Kahlgeschorenen einen trügerischen Heiligenschein. Er trug ein weißes Hemd mit einem schmalen Schlips, vermutlich auf Anraten seines Anwalts, Johan Krohn, der zurückgelehnt dasaß und einen Stift zwischen Zeigefinger und Mittelfinger auf und ab wippen ließ. Krohn missfiel die ganze Situation. Ihm missfiel die Richtung, die die Befragung seines Klienten, Sverre Olsen, genommen hatte, und dessen offenherzige Programmerklärung. Des Weiteren störte es ihn, dass Olsen sich das Recht herausgenommen hatte, seine Hemdsärmel
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