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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen
Autoren: Jo Nesbø
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ihm. Er konnte sich jetzt an Begebenheiten erinnern, an die er jahrelang nicht gedacht hatte. Was er früher in seinen Kriegstagebüchern hatte nachlesen müssen, spielte sich jetzt wie ein Film auf seiner Netzhaut ab, sobald er die Augen schloss.
    »Ein Jahr sollten Sie aber wohl noch haben.«
    Einen Frühling und einen Sommer. Er sah jedes der vergilbten Blätter an den Laubbäumen im Studenterlunden-Park, als habe er neue, stärkere Brillengläser bekommen. 1945 waren es schon die gleichen Bäume gewesen, oder etwa nicht? Doch auf die hatte er an jenem Tag nicht sonderlich geachtet, auf nichts im Besonderen. Die lächelnden Gesichter, die wütenden Mienen, die Rufe, die ihn kaum erreichten, die Tür des Autos, die zugeschlagen wurde – vielleicht hatte er Tränen in den Augen gehabt, denn wenn er an die Flaggen dachte, mit denen die Menschen über die Bürgersteige rannten, dann waren diese rot und irgendwie verschwommen gewesen. Diese Rufe: Der Kronprinz ist wieder da!
    Er ging den Hügel zum Schloss empor, wo sich ein paar Menschen versammelt hatten, um den Wachwechsel zu beobachten. Das Echo der Befehle des Wachhabenden und das Klacken der Gewehrkolben und Stiefelabsätze hallten an der blassgelben Fassade wider. Videokameras schnurrten und er fing ein paar deutsche Kommentare auf. Ein junges japanisches Pärchen stand eng umschlungen da und betrachtete leicht belustigt das Schauspiel. Er schloss die Augen, versuchte den Geruch der Uniformen und des Waffenöles wahrzunehmen. Aber hier gab es nichts, was so roch, wie sein Krieg gerochen hatte.
    Er öffnete seine Augen wieder. Was wussten sie schon, diese schwarz gekleideten Jüngelchen in Uniform, diese Paradefiguren derSozialmonarchie, wenn sie ihre symbolischen Handlungen ausführten! Sie waren zu unschuldig, um etwas zu begreifen, und zu jung, um etwas dabei zu fühlen. Erneut musste er an jenen Tag denken, an die jungen, als Soldaten verkleideten Norweger. Man hatte sie Schwedensoldaten genannt. In seinen Augen waren das Zinnsoldaten gewesen, die nicht wussten, wie man eine Uniform trug, und ebenso wenig, wie man einen Kriegsgefangenen behandelte. Sie waren ängstlich und brutal zugleich gewesen. Eine Zigarette im Mundwinkel und die Uniformmütze schief auf dem Kopf, hatten sie sich an ihre neu erworbenen Waffen geklammert und ihre Angst zu betäuben versucht, indem sie den Gefangenen die Gewehrkolben in den Rücken stießen.
    »Nazischwein«, hatten sie gerufen, wenn sie zuschlugen, in dem Wissen, man würde sie dafür nicht zur Verantwortung ziehen.
    Er holte tief Luft, spürte den warmen Herbsttag, doch da kamen auch schon die Schmerzen. Er taumelte einen Schritt zurück. Wasser in den Lungen. In zwölf Monaten, vielleicht sogar schon eher, würden die Geschwüre und Entzündungen Wasser absondern, das sich in seinen Lungen sammeln würde. Das, hieß es, sei das Schlimmste.
    »Sie werden sterben.«
    Jetzt kam der Herbst, so voller Kraft, dass diejenigen, die ihm am nächsten standen, unwillkürlich einen Schritt zurücktraten.
     
    Außenministerium, Victoria-Terrasse, 5. Oktober 1999
     
    4 Staatssekretär Bernt Brandhaug schritt über den Flur. Vor dreißig Sekunden hatte er sein Büro verlassen und in weiteren fünfundvierzig würde er den Sitzungssaal erreichen. Er hob seine Schultern in dem Jackett, spürte, dass sie es vollständig ausfüllten und dass sich seine Rückenmuskeln gegen den Stoff spannten. Latissimus dorsi – Langlaufinuskulatur. Er war sechzig Jahre alt, sah aber keinen Tag älter als fünfzig aus. Nicht dass ihn sein Äußeres sehr beschäftigt hätte, doch er war sich bewusst, dass er ein attraktiver Mann war. Und dafür reichten schon das Training, das er liebte, ein paar Besuche im Solarium während des Winters und das kontinuierliche Auszupfen der wenigen grauen Haare in seinen mittlerweile buschig gewordenen Augenbrauen.
    »Hei, Lise«, rief er, als er am Kopierer vorbeiging. Die junge Amtsanwärterin zuckte zusammen und konnte ihm gerade noch ein blasses Lächeln zuwerfen, ehe er um die nächste Ecke verschwunden war. Lise hatte vor kurzem ihr Juraexamen abgelegt, sie war die Tochter eines Studienfreundes. Erst vor ein paar Wochen hatte sie hier angefangen. Doch vom ersten Augenblick an war ihr klar gewesen, dass der Staatssekretär, der hochrangigste Angestellte im Auswärtigen Amt, wusste, wer sie war. Wäre sie für ihn zu haben? Wahrscheinlich. Aber es musste nicht sein. Nicht notwendigerweise.
    Er hörte das Geräusch
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