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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen
Autoren: Jo Nesbø
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vier oder fünf Anläufe brauchte, doch Harry hatte das aus irgendeinem Grund immer wieder verschoben.
    Wieder knackte es: »Punkt 28 passiert.«
    »Das war der vorletzte Punkt im Polizeidistrikt Romerike«, sagte Harry. »Jetzt kommt Karihaugen und dann sind wir dran.«
    »Warum können die das nicht so machen wie immer und sagen, wo sich der Konvoi befindet, anstatt diese blöden Nummern anzugeben?«, fragte Ellen vorwurfsvoll.
    »Rat doch mal.«
    Sie antworteten im Chor: »Secret Service!« und lachten. »Punkt 29 passiert.«
    Er sah auf die Uhr.
    »Okay, dann sind die in drei Minuten da. Ich geh jetzt auf die Frequenz vom Osloer Polizeidistrikt. Check noch mal alles ab.«
    Es knackte und pfiff im Funkempfänger, während Ellen die Augenschloss, um sich auf die Bestätigungen zu konzentrieren, die ihr der Reihe nach gemeldet wurden. Dann steckte sie das Mikrofon wieder zurück. »Alle auf ihren Plätzen und bereit.«
    »Danke. Setz deinen Helm auf.«
    »Häh? Also wirklich, Harry.«
    »Du hast gehört, was ich gesagt habe.«
    »Dann du aber auch!«
    »Meiner ist zu klein!«
    Eine neue Stimme: »Punkt 1 passiert.«
    »Verdammt, manchmal bist du einfach so … unprofessionell.« Ellen drückte sich den Helm auf den Kopf, befestigte den Kinnriemen und streckte dem Innenspiegel die Zunge heraus.
    »Ich liebe dich auch«, sagte Harry, während er die Straße vor sich durch das Fernglas beobachtete. »Ich sehe sie.«
    Ganz oben auf der Steigung bei Karihaugen blinkte Metall auf. Harry sah bis jetzt nur den ersten Wagen des Konvois, doch er kannte die Reihenfolge: sechs Motorräder mit besonders geschulten Polizisten der norwegischen Escortabteilung, zwei norwegische Begleitfahrzeuge, dann ein Wagen vom Secret Service, gefolgt von zwei exakt gleichen Cadillac Fleetwood Limousinen, Spezialwagen des Secret Service, die beide aus den USA eingeflogen worden waren. In einem davon saß der Präsident. In welchem, war geheim. Vielleicht sitzt er auch in beiden, dachte Harry. Einen für Jekyll und einen für Hyde. Dann kamen die größeren Wagen: Krankenwagen, Kommunikationsfahrzeug und noch mehr Secret-Service-Wagen.
    »Alles scheint ruhig zu sein«, bemerkte Harry. Er bewegte sein Fernglas langsam von rechts nach links. Die Luft flimmerte über dem Asphalt, obgleich es ein kühler Novembermorgen war.
     
    Ellen konnte den Umriss des ersten Wagens erkennen. In einer halben Minute sollten sie die Mautstation passiert haben, womit die Hälfte ihres Jobs erledigt wäre. Und in zwei Tagen, wenn dieselben Autos die Mautstation in umgekehrter Richtung erneut passiert hatten, konnten Harry und sie ihre gewohnte Polizeiarbeit wieder aufnehmen. Ihr waren die Toten im Morddezernat lieber, als um drei Uhr nachts aufzustehen und dann mit einem übel gelaunten Harry, dem seine Verantwortung schwer zu schaffen machte, in einem kalten Volvo zu sitzen.
    Abgesehen von Harrys gleichmäßigem Atem war es vollkommen still im Auto. Sie überprüfte, ob die Statusanzeigen beider Funkempfänger leuchteten. Die Autokolonne hatte jetzt beinahe die Senke erreicht. Sie nahm sich vor, nach dem Job ins Torst zu gehen und sich voll laufen zu lassen. Dort gab es einen Typen, mit dem sie neulich geflirtet hatte; er hatte schwarze Locken und braune, fast gefährliche Augen. Er war mager und hatte so einen bohemeartigen, intellektuellen Touch. Vielleicht …
    »Was zum Teuf…«
    Harry hatte sich bereits das Mikrofon geschnappt. »Im dritten Kassenhäuschen von links steht jemand. Kann mir einer diese Person identifizieren?«
    Das Funkgerät antwortete mit knisterndem Schweigen, während Ellens Blick die Reihe der Kassenhäuschen absuchte. Da! Hinter dem braunen Glas erkannte sie den Rücken eines Mannes – kaum vierzig, fünfzig Meter vor ihnen. Im Gegenlicht zeichnete sich sein Profil deutlich ab. Ebenso der kurze Lauf mit dem Zielfernrohr, der über seine Schulter hinausragte.
    »Eine Waffe!«, rief sie. »Er hat eine Maschinenpistole!«
    »Scheiße!« Harry trat die Autotür auf, packte mit beiden Händen den Rand des Autodaches und schwang sich nach draußen. Ellen starrte auf die Wagenkolonne. Sie war vielleicht noch hundert Meter entfernt. Harry steckte seinen Kopf ins Auto.
    »Das ist keiner von uns, aber es kann einer vom Secret Service sein«, sagte er. »Ruf das HQ an.« Er hielt den Revolver bereits in der Hand.
    »Harry …«
    »Sofort! Und drück die Hupe, wenn sie sagen, dass es einer von denen ist.«
    Harry rannte auf das Kassenhäuschen zu.
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