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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer
Autoren: Maggie Stiefvater
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unkontrolliertes Zittern. Unsicher stehe ich in meinen Steigbügeln und lenke Dove weg von den Capaill Uisce, die nun die Ziellinie überqueren. Schimmel und Rappen und Füchse und Braune.
    Sean sehe ich nicht.
    Das Rauschen in meinen Ohren hält an. Es dauert einen langen Moment, bis mir klar wird, dass es die jubelnden Zuschauer oben auf der Klippe sind.
    Sie rufen meinen Namen und Doves. Ich habe das Gefühl, Finn unter ihnen zu hören, aber vielleicht ist es auch Einbildung. Und noch immer laufen Wasserpferde ins Ziel, sie schlingern und tänzeln und bocken.
    Aber Sean sehe ich nicht.
    Ein Mann von der Rennleitung kommt auf mich zu, den Arm nach Doves Zügel ausgestreckt. Meine Hände wollen nicht aufhören
    zu beben; ein schreckliches Gefühl breitet sich in meinem Inneren aus.
    »Herzlichen Glückwunsch!«, sagt der Mann zu mir.
    Ich sehe ihn an und warte darauf, dass das, was er gerade zu mir gesagt hat, einen Sinn ergibt. Dann frage ich: »Wo ist Sean Ken-drick?« Als er nicht antwortet, lasse ich Dove kehrtmachen und den Weg zurücklaufen, den wir gekommen sind. Das Ende der Rennstrecke ist voller verschwitzter Capaill Uisce und erschöpfter Reiter. Der Strand selbst sieht kein bisschen mehr so aus, wie er mir vorgekommen ist, als wir in die andere Richtung galoppierten. Jetzt, im Trab, ist er nur noch ein ganz gewöhnlicher Streifen Sand. Der Ozean rollt Welle für Welle heran, er ist kein gieriges, finsteres Wesen mehr. Ich treibe Dove weiter und suche den nassen Sand ab. Blutlachen markieren die Stellen, an denen Kämpfe stattgefunden haben, und dicht am Wasser liegt ein totes Capaill, ein Fuchs. Ein Stück weiter Richtung Klippe decken gerade ein paar Leute ein Laken über etwas und mein Magen krampft sich zusammen, aber es ist zu groß, um Sean zu sein.
    Und dann sehe ich Corr, direkt am Wasser, sein rotes Fell spiegelt sich im nassen Sand unter ihm. Er entlastet eines seiner Hinterbeine, sodass es nur noch mit der Hufspitze den Boden berührt. Sein Kopf ist gesenkt, und als ich näher komme, sehe ich, dass er zittert. Sein Sattel ist verrutscht und hängt beinahe unter seinem Bauch.
    Unter ihm liegt etwas Dunkles, Längliches, verstrickt im Gewirr der Zügel. Selbst unter all dem Dreck erkenne ich die blau-schwarze Jacke. Und das Rot, das ich für eine Spiegelung gehalten habe, ist Blut und verblasst mit jeder Welle ein bisschen mehr.
    Plötzlich muss ich daran denken, wie Gabe gesagt hat, er ertrage es nicht mehr, und wie ich ihm nicht geglaubt habe, denn solange man nur entschlossen genug ist, kann man schließlich alles ertragen.
    In diesem Moment wird mir klar, dass ich mich geirrt habe, denn ich ertrage den Gedanken nicht, dass Sean Kendrick tot sein soll. Nicht nach all dem. Nicht nach all den anderen. Der Anblick von
    Corr und seinem Bein, das aussieht, als wäre es gebrochen, ist schon schlimm genug. Aber Sean kann nicht tot sein.
    Ich lasse mich von Doves Rücken gleiten. Ein Rennhelfer ist aufgetaucht und ich drücke ihm meine Zügel in die Hand. Durch den Sand wanke ich auf Corr zu. Ich zucke zurück, als eine Möwe nah an meinem Gesicht vorbeisegelt. All das Blut am Strand lockt sie bereits an – warum scheucht sie denn niemand fort?
    »Sean.«
    Als ich mich Corr nähere, lässt mich eine plötzliche Bewegung zusammenfahren. Es ist Sean – er hebt den Arm, tastend. Als er den Steigbügel findet, zieht er sich daran hoch. Er ist so unsicher auf den Beinen wie ein junges Fohlen.
    Ich schlinge die Arme um ihn. Ich weiß nicht, wer von uns beiden es ist, der so zittert.
    Seans Stimme ist heiser. »Hast du es geschafft?«
    Ich will es ihm nicht sagen, weil es nur die Hälfte von dem ist, was wir erreichen wollten.
    Er löst sich von mir und sieht mir ins Gesicht. Ich weiß nicht, was er dort sieht, aber er sagt: »Ja.«
    »Penda ist Zweiter geworden. Wo warst du? Was ist passiert?«
    »Mutt«, murmelt Sean. Er blickt aufs Meer hinaus, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. »Hast du ihn gesehen? Nein, wahrscheinlich nicht. Sie hat ihn mitgenommen. Die Scheckstute hat ihn mitgenommen.«
    Meine Wunden beginnen zu schmerzen und mein Magen zieht sich zusammen. »Er hatte nie vor zu gewinnen. Er wollte dir nur –«
    »Corr ist bei mir geblieben«, bemerkt Sean nachdenklich. »Ich hätte sterben können. Er hätte nicht hierbleiben müssen.« In diesem Augenblick wird mir klar, dass es keine Rolle spielt, dass er nicht gewonnen hat. Corrs Treue ist kostbarer für ihn als jede
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